It’s beginning to look a lot like christmas…
Es wird Zeit für einen buchigen Adventskalender und da mein Stapel ungelesener Bücher wächst und wächst, habe ich mir gedacht, ich mache mal wieder ein SuB Abbau meets buchigen Adventskalender. Vor allem, weil sich auch viele dünne Bücher angesammelt haben, auf die ich schon länger große Lust habe.
In diesem Jahr werde ich wieder jeden Tag ein Buch auspacken und lesen – ihr könnt euch also auf 24 Kurzrezensionen freuen. Es wird abwechslungsreich, fast aus jedem Genre ist was dabei.
Lassen wir meinen SuB also schrumpfen!
1. Türchen: David Szalalay – Turbulenzen – Hanser Verlag – 136 Seiten – ET: 17.08.2020
Zwölf Menschen begegnen sich, während ihr Leben in Turbulenzen gerät. Auf dem unruhigen Flug nach Madrid kommt eine Frau, die ihren krebskranken Sohn in London besucht hat, mit ihrem Sitznachbarn ins Gespräch. Der Geschäftsmann aus dem Senegal weiß noch nicht, dass ihn in Dakar die Nachricht eines tragischen Unfalls erwartet, bei dem ein Frachtpilot Zeuge wurde. In diesem höchst spannenden Roman berührt jedes Leben das nächste, ob es der indische Golfer ist, der seinen senilen Vater bestiehlt, oder die Tochter einer ausgewanderten Deutschen, die einen syrischen Flüchtling heiraten will. Mit magischer Schwerelosigkeit nimmt uns der international gefeierte Autor David Szalay mit auf eine Reise rund um die Welt.
Im Prinzip ist es ein Kurzgeschichtenband, und doch sind alle Kapitel miteinander verbunden; sie gehen gewissermaßen ineinander über. Es geht immer um die Begegnung eines Menschen mit einem anderen, dessen Geschichte dann wiederum im nächsten Abschnitt fortgeführt wird. Diesen Aufbau finde ich schon ziemlich genial, vor allem weil am Ende der Kreis geschlossen wird. Auch die Überschriften der kurzen Kapitel mit den Kürzeln der Flughäfen gefiel mir.
Der Titel des Buches ist ja „Turbulenzen“ und natürlich denkt man da als erstes an einen unruhigen Flug. Doch dieser ist eigentlich nur Aufhänger der ersten Geschichte. Alle weiteren handeln von Turbulenzen jeglicher Art: Gesundheit, Liebe, Freundschaft. In jedem Kapitel erhalten wir also einen kurzen Einblick in das Leben eines*einer Protagonist*in. Und diese Ausschnitte zeigen die unterschiedlichsten Alltagssituationen. Was mich begeistert hat: Manchmal denkt man schon, man würde die zweite Figur einer Geschichte bereits durchschauen, doch dann lernt man im nächsten Kapitel ihre Perspektive kennen und auf einmal mischen sich Schwarz und Weiß in ein mittleres Grau. Der Autor kratzt selten nur an der Oberfläche.
Fazit: Ich bin beeindruckt, wie viele verschiedene, aber gleichermaßen interessante Lebensausschnitte uns der Autor auf weniger als 150 Seiten näherbringt.
2. Türchen: Hanna Bervoets / Rainer Kersten – Dieser Beitrag wurde entfernt – Hanser Verlag (in der Ausgabe der Büchergilde) – 112 Seiten – ET: 16.3.2023
Mindestens 500 Beiträge pro Tag, maximal sieben Minuten Pause, beim Gang aufs Klo läuft die Stoppuhr – die Arbeitsbedingungen bei Hexa sind hart. Die verstörenden Bilder, die Kayleigh für die OnlinePlattform prüfen muss, behandelt sie mit Distanz. Doch der Job gefällt ihr, und als sie sich verliebt, scheint ihr Glück vollkommen. Bis ihre Kollegen plötzlich kollabieren oder beginnen, Verschwörungstheorien anzuhängen. Ist Kayleigh dem Job als Einzige gewachsen? Oder merkt sie nur nicht, wie auch ihr moralischer Kompass sich zu verschieben beginnt? Ein aufwühlender Roman über die Abgründe des virtuellen Raums und darüber, wer oder was bestimmt, wie wir die Welt sehen.
Auf den ersten Blick hatte ich mir mehr Gesellschaftssatire über Social Media erwartet. Stattdessen nimmt die Affaire inkl. Sexszenen) der Protagonistin den größten Raum ein. Doch auf den zweiten Blick versteht man, wie das alles miteinander zusammenhängt und wie intelligent die Autorin beides verknüpft. Trotzdem konnte mich die Geschichte nicht wirklich gefangen nehmen, die Figuren bleiben blass und unsympathisch, daher wird das Buch auch nicht bei mir einziehen.
3. Türchen: Donna Leon / Werner Schmitz, Christa E. Seibicke u. a. – Ein Leben in Geschichten – Diogenes – 192 Seiten – ET: 24.08.2022
Donna Leon hat viel erlebt, in Amerika, dem Iran, Saudi-Arabien, Italien natürlich oder in der Schweiz. Kaum aber passiert ihr ein Abenteuer, wird auch schon eine spannende Geschichte daraus. Sie erzählt uns von ihrer Jugend auf der Farm und von Sperrstunden-Pyjamapartys im Iran, Geldnot und einem Fiat 600. Davon, wie sie als »Anstandsdame« nach Italien kam, von der Jagd nach dem perfekten Cappuccino und kleinen Wundern in den Bergen.
Seit ich die Autorin live auf einer Lesung erlebt habe, freue ich mich auf dieses Buch. Doch hohe Erwartungen sind gefährlich. Und so ist „Ein Leben in Geschichten“ – das Buch, für das ich meine Hand ins Feuer gelegt hätte – leider die erste Enttäuschung des Adventskalenders. Aber das kann passieren, wenn man die Autobiografie einer Lieblingsautorin in Händen hält.
Commissario Brunetti begleitet mich schon seit gut dreißig Jahren! Und irgendwie hatte ich bei dem Buchtitel erwartet, dass wir vor allem einen Einblick in das Schriftstellerinnenleben von Donna Leon erhalten; wie sie zu ihrem Ermittler und seiner Familie gekommen ist, wie sie seine Fälle findet und wie sie in Venedig gelebt und gearbeitet hat. Eben so, wie die eine Geschichte über den Brief, den sie für die echte Questura von Venedig schreiben musste.
Stattdessen sind aneinandergereihte eher langweilige Anekdoten über ihre Familie und aus ihrem Leben, die nichts mit meinem geliebten Venezianer zu tun haben. Auch hat es mir die Autorin nicht wirklich näher gebracht. Dieses Buch darf also leider nicht in mein Bücherregal einziehen.
4. Türchen: Annie Ernaux / Sonja Finck – Das Ereignis – Suhrkamp – 104 Seiten – ET: 10.11.2022
Oktober 1963: Die 23-jährige Annie entdeckt, dass sie schwanger ist. Die Studentin aus bescheidenen Verhältnissen weiß: Wenn sie ein uneheliches Kind zur Welt bringt, wird sie alles verlieren. Das hart erkämpfte Universitätsstudium, die Hoffnung, dem engen, prekären Milieu der Eltern zu entkommen. Sie ist entschlossen, die Schwangerschaft zu beenden, aber im Frankreich der 1960er Jahre ist Abtreiben illegal, und so beginnt für die junge Frau ein Spießrutenlauf, der sie von der Praxis eines überheblichen Arztes ins Hinterzimmer einer zweifelhaften Engelmacherin führt und schließlich in der Notaufnahme endet. Voller Scham versucht Annie, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen, und begegnet dabei überall erschreckender Gleichgültigkeit.
Mein erstes Buch einer Literaturnobelpreisträgerin. Und dann auch noch so ein gutes. Das habe ich nicht erwartet. Der Inhaltsangabe des Verlags kann ich eigentlich gar nichts mehr hinzufügen. Außer dass dieses autobiografische Ereignis erschütternd bildhaft und extrem gut lesbar geschrieben ist und niemand, der dieses Buch gelesen hat, ernsthaft noch für die Strafbarkeit von Abtreibungen sein kann. In meinen Augen eine Pflichtlektüre, die definitiv in jeden Lesekreis gehört!
5. Türchen: Satoshi Yagisawa – Die Tage in der Buchhandlung Morisaki – Insel – 189 Seiten – ET: 15.04.2024
Die 25-jährige Takako hat einen Job, eine Wohnung in Tokio und einen festen Freund. Als dieser ihr eines Abends freudig eröffnet, er werde heiraten – und zwar eine andere –, fällt sie aus allen Wolken. Vor Kummer verkriecht sie sich und kündigt ihren Job. Als ihr Onkel ihr anbietet, eine Zeitlang in seinem Antiquariat im berühmten »Bücherviertel« Tokios, Jimbōchō, auszuhelfen und dort auch unterzukommen, findet sie das zwar zunächst alles andere als reizvoll, willigt aber ein. Doch in dem kleinen Zimmer über dem Laden, inmitten von Büchern, entdeckt sie ihre Leidenschaft fürs Lesen – und schöpft allmählich wieder neue Kraft.
Dem Klappentext ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Mein Fazit: Eine wohlige Mutmach-Geschichte mit schönen Figuren. Ein Wolldecken-Buchsnack für Zwischendurch. Aber auch wenn es mir zwei schöne Lesestunden beschert hat, hallt es doch nicht so sehr nach, als dass es bei mir einziehen dürfte…
6. Türchen: Franz Kafka: Die Verwandlung – Diogenes – 112 Seiten – ET: 25.7.2006
Eines Morgens erwacht Gregor Samsa und ist in einen riesigen Käfer verwandelt. Das revoltierende Unbehagen in ihm – gegen seinen Beruf, seine Familie – hat sich eine äußere Gestalt geschaffen. Die Eltern und die Schwester ekeln sich nun vor Gregor. Dabei sind sie an seiner Metamorphose nicht unschuldig.
Seit ich von „Die Physiker“ von Dürrenmatt so begeistert war, traue ich mich ja wieder an Klassiker heran. Doch leider war Kafkas Verwandlung für mich ein Reinfall… Vermutlich habe ich es einfach nicht verstanden, denn ich fand es nur langweilig.
7. Türchen: Gabriele Tergit: Der erste Zug nach Berlin – Büchergilde – 208 Seiten – ET: 2023
Die junge Amerikanerin Maud hat noch nicht viel von der Welt außerhalb der New Yorker High Society gesehen. Da bekommt sie die Gelegenheit, eine Militärmission nach Berlin zu begleiten, um den Deutschen demokratische Prinzipien näherzubringen – eine fabelhafte Chance, vor ihrer Hochzeit noch etwas zu erleben. Die chaotische Gruppe versammelt allerlei skurrile Charaktere, und die ebenso glamouröse wie naive Maud muss bald feststellen, dass die Deutschen weder ein Interesse an Demokratie haben noch daran, von den Alliierten gerettet zu werden. Eine bitterböse Satire über das Deutschland der Nachkriegszeit – erstmals nach dem Originaltyposkript veröffentlicht.
Also dieses Buch kriegt schonmal den Preis für das überraschendste Leseerlebnis; es ist so eine wilde Storyline mit vielen interessante Figuren und Passagen, die mir einen nachdenklichen Einblick in die verschiedenen internationalen Perspektiven auf die Nachkriegszeit mit gewähren. Durch den starken Mix aus Deutsch und Englisch nicht ganz einfach lesen, aber die Anstrengung lohnt sich!
8. Türchen: Thilo Mischke – Alles muss Raus – Droemer – 208 Seiten – ET: 01.03.2022
Als Journalist hat Thilo Mischke weit über hundert Länder dieser Welt bereist. Es ist dabei nicht der Reiz des Extremen, der ihn in die entlegensten Ecken treibt, sondern sein offener Blick für Menschen und ihre Geschichten, ja ein unersättlicher Hunger auf Lebenserfahrung. Egal, ob er in El Salvador dem Tod ins Auge blickt, Freundschaft in den Weiten Islands erfährt oder ukrainische Soldaten trifft: In seinen Schilderungen aus den grausamsten und unwirtlichsten Regionen der Welt wird das Fremde plastisch. So erscheint im Spiegel des Unbekannten die eigene Realität in neuem Licht. Und weil Thilo Mischke unerträglich tolerant auf seinen Reisen ist, ist am Ende klar, wie aufregend, herausfordernd und vielfältig die Welt ist – aber nirgendwo schwarzweiß.
Abgebrochen…
Ich habe ehrlich gesagt interessantere Berichte erwartet, doch leider hält der Klappentext nichts von dem, was er verspricht.
9. Türchen: Seishi Yokomizo – Die rätselhaften Honjin-Morde – Aufbau Verlag – 206 Seiten – ET: 14.02.2024
Es ist der Winter 1937, und der Ort Okamura befindet sich in heller Aufruhr: schon bald wird die renommierte Ichiyanagi-Famile ihren Sohn vermählen. Aber unter den Tratsch über das anstehende Fest mischt sich ein besorgniserregendes Gerücht: ein maskierter Mann streift durch das Städtchen und fragt die Leute zu den Ichiyanagis aus. In der Hochzeitsnacht dann erwacht die Familie durch einen furchtbaren Schrei, auf den eine unheimliche Melodie folgt. Ja, der Tod ist nach Okamura gekommen und hat keine weitere Spur als ein blutiges Samurai-Schwert hinterlassen, das im reinen Schnee im Hof des Hauses steckt. Der Mord am frisch vermählten Paar gibt Rätsel auf, war doch das Schlafzimmer von innen verschlossen. Doch der private Ermittler Kosuke Kindaichi will den Fall unbedingt lösen.
The Guardian hält dieses Buch für die japanische Antwort auf Agatha Christie. So weit würde ich zwar nicht gehen, aber es ist ein intelligent und spannend geschriebener Krimi. Der Fall ist raffiniert, aber das Japanfeeling kommt eigentlich nur über die Namen und Begriffe. Trotzdem fesselnde Unterhaltung für Zwischendurch.
10. Türchen: Stefan Zweig – Schachnovelle – Reclam – 100 Seiten
»Schach! Schach dem König!« An Bord eines Passagierdampfers von New York nach Buenos Aires wird Schach gespielt. Was als harmloser Zeitvertreib wohlhabender Reisender beginnt, ruft in Dr. B. traumatische Erinnerungen an seine Zeit als Gefangener der Gestapo in Österreich wach. Stefan Zweigs Schachnovelle, sein letztes und wohl bekanntestes Werk, beschäftigt sich mit psychischen Abgründen und perfiden Foltermethoden.
In einem Wort: Grandios! Seit ich „Die Schachspielerin“ von Bertina Henrichs gelesen habe, habe ich ein Faible für Schachromane. Genial finde ich nicht nur, wie Stefan Zweig das Spiel mit den grausamen Erfahrungen aus dem zweiten Weltkrieg verknüpft, sondern auch den Gedanken, dass die rein geistige Beschäftigung mit dem Spiel einem so viel Kraft verleihen kann, das Unmenschlichste zu ertragen.
11. Türchen: Teresa Präauer – Kochen im falschen Jahrhundert – Wallstein Verlag – 198 Seiten – ET: 22.02.2023
Der Roman eines Abends und einer Einladung zum Essen. Voll mit Rezepten für ein gelungenes Leben und einen misslingenden Abend, der immer wieder neu ansetzt, schlau, witzig, heiter, gleichzeitig begleitet von den unterschwelligen oder ganz offen artikulierten Aggressionen der Beteiligten.
In ihren Gesprächen verhandeln sie die ganz großen und kleinen Themen, von den ›Foodporn‹-Bildern im Internet über Kochen, Einkaufen und Wohnen als soziale Praktiken. Zunehmend wird der Abend komischer, tragischer, erotischer – dabei werden einzelne ›heutige‹ Begriffe diskutiert, während die Gastgeberin keine besonders talentierte Gastgeberin ist und sich immer wieder ins falsche Jahrhundert versetzt fühlt. Nebenbei wird in Anekdoten eine Geschichte der Waren, Speisen und des Kochens erzählt.
„Kochen im falschen Jahrhundert“ ist ein literarisches Kammerspiel, gute Unterhaltung für einen Abend bei einem Glas Wein. Ich weiß nicht, warum mir während und nach der Lektüre immer wieder das Wort „Geplapper“ in den Sinn kommt. Es gibt 5 Protagonist*innen – allesamt namenlos, sie werden nur mit „Ehefrau“, „Ehemann“, „Partner“ und „Der Schweizer“ benannt. Deshalb dauert es ein wenig, bis ich in der Geschichte drin bin. Schauplatz ist die Wohnung der „Gastgeberin“, in die ich mich übrigens gut hineinversetzen kann. Die Handlung beginnt mehrfach von vorn, wird immer wieder etwas anders erzählt. Teresa Präauer schreibt bildhaft und unterhaltsam. Nur was der Titel bedeuten soll, verstehe ich auch nach der Lektüre nicht.
12. Türchen: Viktor Funk – Wir verstehen nicht, was geschieht160 Seiten – ET: 14.9.2023
Lew und Swetlana haben ein Leben gelebt, das im Nachhinein unmöglich erscheint. Eine Revolution, zwei Terrorregime – danach eine lange, erfüllte Beziehung. Ein junger Historiker aus Deutschland, Alexander List, sucht den betagten Lew in Moskau auf. Er will ihn interviewen und mehr über Menschen erfahren, die den Gulag überlebt haben. Wir verstehen nicht, was geschieht folgt den Spuren realer Personen. Im Zentrum steht dabei der Physiker Lew Mischenko. Dieser möchte Alexander einen Koffer voller Briefe aus der Zeit seiner Gefangenschaft im Gulag überlassen. Unter einer Bedingung: Der Historiker soll ihm helfen, nach Petschora zu reisen – zum Ort seiner Haft, wo ein alter Freund auf ihn wartet.
Ein unglaublich bewegendes Buch und ein Stück grausige Zeitgeschichte. Ich wusste bislang nichts über Gulags oder dass Stalin seine eigenen Leute nach Ende des zweiten Weltkriegs – kaum, dass sie aus den deutschen Arbeitslagern befreit wurden – in russische gesteckt wurden. Durch die Art, wie der Autor zusammen mit Alexander und Lew auf die Reise nach Petschora schickt und den Bericht des Protagonisten mit zahlreichen Briefe anreichert, bekommt die Geschichte etwas sehr authentisches (sie beruht ja aber auf wahren Figuren). Die Figuren sind extrem lebensecht gezeichnet und der Schreibstil ist so bildhaft, ich habe den Zug, die Kälte und das Archiv so deutlich vor Augen als wäre ich dabei. Ein kurzweiliger, aber sehr nachhallender Roman. Ganz große Leseempfehlung – ein echter Geheimtipp!
13. Türchen: Finn Job – Damenschach – Wagenbach Verlag – 176 Seiten – 15.8.2024
Zertrampelte Rosen, zerschmetterte Vasen, eine Puppe im Pool. Fünf erhitzte Figuren feiern Geburtstag – mitten im Wald. Sie essen zu wenig, trinken zu viel, verheddern sich gesprächsweise. Und bei Tagesanbruch vermag niemand zu sagen, ob sie sich retten werden…
Eingeladen hat Marie-Louise niemanden, und doch klingelt ihr »Hausfreund« David, ausgestattet mit Blumen und Champagner, schon vor dem Frühstück. Sie ist noch im Pyjama. Angekündigt hat sich hingegen ihr eineiiger Zwilling, der neuerdings Marius heißt, um gemeinsam den runden Geburtstag zu feiern. Nur kommt er nicht allein. Seine Freundin Olivia weckt allerhand Begehrlichkeiten, und großen Hunger hat sie auch. Die Haushälterin Ivana führt unbemerkt Regie, behält die Ruhe und alles im Blick.
Eine exzentrisch überfüllte Architektenvilla im Wienerwald wird zur Bühne dieser zunehmend schrillen Dinnerparty, die vom Pizzaservice beliefert wird. Die Stimmung ist ebenso angespannt wie erotisch aufgeladen. Es wird laufend nachgeschenkt und vor allem gestritten. Darüber, wie man wurde, was man ist, was gesagt werden darf und zu befürchten wäre und wohin das alles führen kann. Irgendwann fällt ein Schuss. Ob Marie-Luise am nächsten Tag zum Damenschach gehen kann, ist durchaus ungewiss.
Mit Schach hat dieses Buch leider überhaupt nichts zu tun. Stattdessen verbirgt sich dahinter ein weiteres literarisches Kammerspiel, das insbesondere die geschlechtliche und sexuelle Identität zum Thema macht. Dennoch bleiben mir die Figuren fremd und so kann mich die Geschichte nicht gefangen nehmen.
14. Türchen: Mathias Énard – „Der perfekte Schuss“ – Hanser – 192 Seiten – ET: 20.03.2023
Auf Konzentration kommt es an, auf Geduld und Atemkontrolle. An einem guten Tag reicht ihm ein einziger perfekter Schuss. Er ist zwanzig, der beste Scharfschütze der belagerten Stadt. Wenn er von seinem Posten auf dem Dach heruntersteigt, genießt er die Angst, die er verbreitet. Furchtlos ist nur Myrna, das Mädchen, das für seine demente Mutter sorgt – das er beschützen und besitzen will. Dies ist ein Roman über den Krieg aus der Perspektive eines Mörders, der sein Selbstwertgefühl aus der Eleganz seiner Treffer zieht. Kalt spricht der Erzähler von seinem Handwerk, dem Töten, und offenbart eine Wahrnehmung, in der die Verbindung zwischen gelungenem Schuss und ausgelöschtem Leben gekappt ist. Ein erbarmungsloser Text über die sich verselbständigende Realität von Kriegsgewalt.
Ich hänge zwei Tage hinterher und Schuld daran ist dieses Buch, denn es war, als wäre ich Zeugin eines fürchterlichen Autounfalls gewesen. Und das musste ich erstmal verdauen. Wir kriechen nämlich tief in den Kopf eines Scharfschützen, dessen Land sich im Krieg befindet und der dabei hilft, feindliche Personen auszuschalten. Das müssen nicht zwangsläufig Soldaten sein… Seine Perspektive erscheint mir krank, ein besseres Wort will mir nicht einfallen. Seine Wahrnehmung ist total verdreht, er spinnt sich seine eigene Wahrheit zusammen. Er engagiert die 15jährige Myrna, um sich um seine Mutter und sein zu Hause zu kümmern, doch ihre Schönheit nimmt ihn gefangen, er ist von ihr regelrecht besessen. Erschreckend fesselnd schreibt der Autor über den kaltschnäuzigen Kriegsalltag, die Figur des Protagonisten wirkt gruselig authentisch und ein wenig erinnert der Roman an „Trophäe“ von Gaea Schoeters. Große Leseempfehlung, aber nichts für Zartbeseitete.
15. Türchen: Agatha Christie – „Die vergessliche Mörderin“ – Atlantik – 224 Seiten – ET: 04.03.2020
Norma Restarick ist felsenfest davon überzeugt, eine Mörderin zu sein. Das Problem ist jedoch, dass sie sich nicht daran erinnern kann, wen sie umgebracht hat und auch nicht wie sie es getan haben soll. Hercule Poirot und seine gute Freundin Ariadne Oliver erklären sich dennoch bereit, in diesem durch und durch sonderbaren Fall zu ermitteln. Lediglich ein Selbstmord hat sich in Norman Restaricks Apartmenthaus zugetragen. Könnte das der Mord sein, den die junge Frau meint begangen zu haben?
Ich liebe die Poirots, in denen er mit Ariadne Oliver zusammenarbeitet. Ihre Figur ist einfach herzallerliebst. Und der Fall selbst ist auch sehr intelligent gestrickt, mit einer logischen Auflösung, auf die ich leider nicht gekommen bin. Aber man kann schon selbst miträtseln. Einmal mehr stellt die Queen of Crime ihre erstaunliche Beobachtungsgabe unter Beweis und dass sie die Psyche der Menschen versteht – der Guten wie der Bösen…
16. Türchen: Jane Campbell – Kleine Kratzer – Kjona – 192 Seiten
Es geht darin um 13 Heldinnen, die sich nicht aussortieren und enteignen lassen, nur weil sie »alt« sind und ihre Familien keine Verwendung mehr für sie haben. 13 Heldinnen – voller Hoffnungen und Sehnsüchte, voller Leben – die ihre ganz eigenen, überraschenden Wege finden, wie sie bekommen, was sie wollen. Mit abgründigem Humor entlarvt Jane Campbell unsere bigotten Vorstellungen vom Alter und stellt ihnen ehrliche Erzählungen von später Intimität und Liebe und existenzieller Verlorenheit gegenüber.
Dieses Buch ist großartig und eignet sich bestens als Geschenk! Es enthält mehrere Kurzgeschichten mit starken Protagonistinnen. Jede spielt in einem anderen Setting und hat einen anderen Plot. Allen gemeinsam ist, dass die Hauptfiguren schon mindestens in der zweiten Lebenshälfte stecken. Und das hat mir richtig gut gefallen. Zugegeben, manche sind etwas verstörend (Allein schon die erste Geschichte) oder haben ein offenes Ende, aber ich habe jede einzelne gern gelesen!
17. Türchen: Tage des Lesens – Insel – 174 Seiten – ET: 16.01.2023
Vom Glück wunderbarer Lesestunden und von Büchern, die ein Leben verändern können, erzählen die hier versammelten Autorinnen und Autoren: Marcel Proust, Thomas Bernhard, Hanns-Josef Ortheil, Rafik Schami, Claire Beyer, Ulrike Draesner, Cornelia Funke, Elke Heidenreich, Erika Pluhar, Tatjana Kruse u.v.a.
Vielleicht wäre es besser gewesen, diesen Kurzgeschichtenband über Bücher und das Lesen nicht gerade mit dem Abschnitt von Marcel Proust zu beginnen, denn das könnte viele abschrecken. Ich habe ausnahmslos alle Geschichten in diesem Büchlein geliebt – bis auf die erste Titelgebende Geschichte von Marcel Proust und „Das Papierhaus“ von Carlos Maria Dominguez. Alle anderen brachten mich zum Lachen, zum Weinen, und haben sich direkt in mein Herz geschlichen. Ein wunderbarer Geschenktipp für alle Leseratten mit dem Hinweis, vielleicht mit der zweiten Geschichte zu beginnen.
18. Türchen: Kari Erlhoff – Der blutrote Kondor – Kosmos – 192 Seiten – ET:
19.02.2024
Es ist so langweilig! In Rocky Beach ist wirklich überhaupt gar nichts los. Skinny Norris kann noch nicht einmal die drei ??? ärgern: Justus, Peter und Bob sind verreist. Als Lys de Kerk auftaucht, gibt es endlich Hoffnung. Vielleicht passiert jetzt endlich etwas Spannendes? Lys‘ Bruder Yan ist mit einem Freund losgezogen, um einen Schatz zu suchen. Das ist Skinnys Chance! Vielleicht ist er schneller als die anderen? Keiner kennt sich in den Küstenbergen so gut aus wie er. Skinny erklärt sich bereit, Lys zu helfen. Ein humorvoller Lokalkrimi, in dem der Erzfeind der drei ??? im Mittelpunkt steht.
Ich mag die Rocky Beach Crimes Serie, in der nicht die drei Fragezeichen, sondern eine*r der Nebenfiguren ermittelt. Doch Skinner Norres war und ist kein Sympathieträger. Der Charakter ist zwar gut gezeichnet – der auf die schiefe Bahn geratene Sohn aus reicher Familie, immer im Schatten der drei Detektive und im Zwiespalt zwischen Gier und doch mal das richtige zu tun – aber so einem Protagonisten zu folgen macht nicht ganz so viel Spaß wie Tante Mathilda, Kommissar Reynolds oder selbst Monsieur Hugenay. Daran konnten auch Lys und Yan de Kerk nichts ändern. Der Fall hingegen ist toll (auch die Auflösung) und Kari Erlhoff schreibt sehr bildhaft und atmosphärisch. Vor allem die humorvollen Verweise auf die drei ??? machen das Lesen zu einer wahren Freude.
Was würde der gute Justus tun? Richtig, er würde seine treue Nummer Zwei um Hilfe bitten. Der Name ist Programm. S.H.A.W. – ein Akronym für die worte Schlüsseldienst, Hohlkopf, Angsthase und Werkzeugträger.
Kari Erlhoff: Der rote Kondor, S. 62
Türchen Nr. 19: Hang Kang – Die Vegetarierin – Aufbau Verlag – 190 Seiten – ET: 15.09.2017
Yong-Hye und ihr Ehemann sind ganz gewöhnliche Leute. Er geht seinem Bürojob nach und hegt keinerlei Ambitionen. Sie ist eine leidenschaftslose, pflichtbewusste Hausfrau. Die angenehme Eintönigkeit ihrer Ehe wird jäh gefährdet, als Yeong-Hye beschließt, sich ausschließlich vegetarisch zu ernähren und alle tierischen Produkte aus dem Haushalt wirft »Ich hatte einen Traum«, so ihre einzige Erklärung. Ein kleiner Akt der Unabhängigkeit, aber ein fataler, denn in einem Land wie Südkorea, in dem strenge soziale Normen herrschen, gilt Vegetarismus als subversiv. Und bald nimmt Yeong-Hyes passive Rebellion immer groteskere Ausmaße an. Sie, die niemals gerne einen BH getragen hat, fängt an, sich in der Öffentlichkeit zu entblößen und von einem Leben als Pflanze zu träumen. Bis sich ihre gesamte Familie gegen sie wendet.
Der Klappentext verspricht „Ein seltsam verstörendes, hypnotisierendes Buch über eine Frau, die laut ihrem Ehemann an Durchschnittlichkeit kaum zu übertreffen ist – bis sie eines Tages beschließt, kein Fleisch mehr zu essen.“
Ich habe ehrlich gesagt weder die sexuelle noch die psychiatrische Komponente dieses Buches erwartet. Und so lässt mich die Lektüre völlig ratlos zurück.
Türchen Nr. 20: Simone Hirth – Malus – Kremayr & Scheriau – 176 Seiten – 2023
Eva googelt: Scheidungsberatung. Was macht Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies? Sie beendet die Missbrauchsbeziehung mit Adam, kommt im Jetzt an und versucht, ihr Leben selbstbestimmt neu aufzubauen. Der Apfel, die Schlange, die Erkenntnis, die Schuld, die Vertreibung, das Leben danach. Was, wenn Eva heute leben würde und sich aus der gewaltvollen Beziehung mit Adam befreien könnte? Die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben hätte?
Dieser Roman lässt mich völlig zerstört zurück. Eva ist schwanger und will einfach nur ihre Freiheit. Aber so einfach reißt man Adam nicht aus dem Paradies; er will Rache…
Es ist unfassbar, was für eine grandiose und gleichzeitig erschütternde Geschichte Simone Hirth auf weniger als 200 Seiten erzählt und wie bildhaft und eindringlich sie es schafft, uns das leider wohl alltägliche Schicksal vieler Frauen vor Augen zu führen. Die Geschichte wird in jedem Fall bis weit ins neue Jahr nachhallen.
Türchen Nr. 21: Dmitrij Kapitelman – Eine Formalie in Kiew – Hanser – 176 Seiten – ET: 25.01.2021
Dmitrij Kapitelman kann besser sächseln als die Beamtin, bei der er den deutschen Pass beantragt. Nach 25 Jahren als Landsmann, dem Großteil seines Lebens. Aber der Bürokratie ist keine Formalie zu klein, wenn es um Einwanderer geht. Frau Kunze verlangt eine Apostille aus Kiew. Also reist er in seine Geburtsstadt, mit der ihn nichts mehr verbindet, außer Kindheitserinnerungen. Schön sind diese Erinnerungen, warten doch darin liebende, unfehlbare Eltern. Und schwer, denn gegenwärtig ist die Familie zerstritten.
Die Geschichte hat mich wirklich interessiert, aber der Schreibstil ist so umständlich, dass es sich nicht flüssig lesen lässt. Deswegen habe ich das Buch nach 50 Seiten abgebrochen.
Türchen Nr. 22: Andrea Petkovic – Zeit, sich aus dem Staub zu machen – KiWi – 224 Seiten – ET: 07.03.2024
Wer ist man, wenn man das zurücklässt, dem man sein ganzes Leben gewidmet hat? Wie sich neuerfinden? Und wie vor allem weiß man, dass es Zeit ist für diesen lebensverändernden Einschnitt? »Zeit, sich aus dem Staub zu machen« erzählt literarisch stark verdichtet von einem Lebensereignis, das sich mal anfühlt wie der harte Ausstieg aus einer Sucht, mal wie ein schmerzlicher Abschied von dem Alltag, wie man ihn nicht anders kannte, mal wie der lustvolle Beginn eines neuen Lebens jenseits der Zwänge des Profisports. Ein Schritt, der für Andrea Petković exemplarisch ist für die großen Abschiede und Transformationen, die es in einem Leben zu bewältigen gilt.
Ich hatte ein Interview mit der Autorin zu dem Buch gehört und fand es spannend, darüber zu lesen, wie es ist, so jung in „Rente“ zu gehen, wie es bei Sportler*innen ja zwangsläufig der Fall ist. Dafür hätte ich aber auch erst auf S. 101 beginnen müssen – und bei insgesamt 215 Seiten bleibt nicht besonders viel übrig. Grds. geht die Geschichte nicht so tief, wie ich gehofft hatte, stattdessen viel Belangloses recht ausufernd erzählt. Ich habe schon sehr viele positive Rezensionen zu diesem Buch gelesen, aber es war halt leider einfach nicht meins.
23. Türchen: Michelle Marley – White Christmas – Aufbau – 272 Seiten – ET: 22.09.2020
Dreaming of a White Christmas. Hollywood, Heiligabend 1937. Für den erfolgreichen Jazz-Komponisten Irving Berlin aus New York ist dieser Tag stets ein besonderer – er verbindet damit sein größtes Glück und gleichzeitig auch einen schweren Schicksalsschlag. Doch diesen Heiligabend muss Irving, zum ersten Mal getrennt von seiner Familie, unter der Sonne Kaliforniens verbringen. Voller Sehnsucht nach seiner Frau und den Kindern beginnt er an einem Song über die Weihnachtszeit zu arbeiten – und erfährt schließlich, dass auch in Hollywood ein Weihnachtswunder geschehen kann. Eine bezaubernde Liebesgeschichte und die Geschichte des erfolgreichsten Weihnachtsliedes aller Zeiten
Eine wirklich schöne weihnachtliche Liebesgeschichte mit New York Feeling der 20er/30er Jahre. Aber haltet Taschentücher bereit!
24. Türchen: Lena Kiefer – West well – Lyx – 34 Seiten – ET: 16.10.2024
Der Beginn von Valerie Westons und Adam Coldwells tragischer Liebesgeschichte.
Habt ihr Westwell gelesen? Zur Frankfurter Buchmesse gab es einen kostenlosen Sonderband mit der Kurzgeschichte, wie es mit Adam und Valerie begann. Ist ganz nett, muss man aber auch nicht unbedingt haben…