Mein dritter Stopp auf den Philippinen, dieses Mal verknüpft mit einer Natur-Katastrophe – wobei auch viel Historisches dabei ist. Klingt äußerst vielversprechend, findet ihr nicht?
Klappentext
Tacloban, Leyte, Philippinen. Der Super-Taifun Haiyan, der »perfekte Sturm«, hat die Insel heimgesucht. Ann kehrt nach 20 Jahren im Auftrag einer NGO in ihre Heimatstadt zurück – und wird überrollt von Kindheitserinnerungen, denen sie inmitten der Trümmer auf den Grund zu gehen versucht: einem großen, düsteren Familiengeheimnis, Gruselgeschichten von einer Bestie, die umgeht in Tacloban, Menschen, die plötzlich in ihr Leben traten und ebenso schnell wieder verschwanden. Gleichzeitig widmet sie sich der Aufgabe, in der völlig zerstörten Stadt nach jenen Fragmenten zu forschen, die vom Leben der Menschen übrigbleiben, wenn ihre Existenz fast vollständig vernichtet wird: ihren Erinnerungen.
Mitreißend, alltagsnah, ungewöhnlich authentisch: Es fühlt sich an wie mittendrin. Mittendrin in der Klima-Katastrophe, dort, wo sie schon längst da ist. Mittendrin in einer Kindheit in der Diktatur, zwischen Licht und Schatten, Wahrheit und Lüge, ganz oben und ganz unten, wo nicht einmal die eigenen Lieben sind, was sie scheinen. Mittendrin in der Realität der Überlebenden: Sieben in die Handlung eingewobene Original-Interviews gehen unter die Haut, indem sie erst richtig fassbar machen, was der Taifun für die Menschen bedeutet: den Schmerz und den Verlust, aber auch die Hoffnung auf ein – vielleicht besseres – Leben danach.
Meine Meinung
Daryll Delgado hat durch den Super-Taifun einen sehr spannenden Ansatz gewählt, um uns die Philippinen näher zu bringen. Erzählt wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive von Ann, man immer nah dran ist – allerdings weniger an der Protagonistin selbst, sondern an den Ereignissen und deren Auswirkungen auf die Menschen. Dazu passt auch der gewählte Berichtsstil, der sich gleichzeitig gut in die journalistische Tätigkeit von Ann einfügt. Außerdem schreibt die Autorin so bildhaft und atmosphärisch, dass ich das Gefühl habe, mit der Protagonistin gemeinsam durch die Trümmer Taclobans zu laufen. Besonders beeindruckend fand ich auch die eingebauten Originalinterviews mit Überlebenden des Taifuns, wodurch die Klimakatastrophe durch ihre Augen erfahrbar wird. Doch der Roman erzählt nicht nur vom Sturm selbst, sondern auch von dem, was danach bleibt: Erinnerungen, Bruchstücke von Leben, Menschen, die versuchen, weiterzumachen, obwohl nichts mehr so ist wie zuvor. Gleichzeitig verwebt Daryll Delgado gekonnt den Lebensraum der Inselbewohner*innen mit philippinischer Kultur und Geschichte.
Ich habe also wieder ein wenig mehr über die Philippinen gelernt, denn auch wenn es ein fiktionaler Roman ist, merkt man schnell, wie viel Recherchearbeit in dieser Geschichte steckt. Bspw. erfahren wir aus Anns Erinnerungen, wie es gewesen sein muss, in einer Diktatur aufzuwachsen. Auch die vorherrschende Klassenproblematik wird nachspürbar dargestellt und wir lernen philippinisches Essen und dortige Mythen kennen. Außerdem wusste ich gar nicht, dass auf den Philippinen zahlreiche verschiedene Sprachen gesprochen werden. Für meine literarische Weltreise empfand ich insbesondere den historischen Abriss im Anschluss an den Roman bereichernd, denn hier erfahren wir auf zweieinhalb Seiten alles notwendige Hintergrundwissen. Ihr spoilert euch übrigens auch nicht, wenn ihr das zuerst lest.
Doch „Überreste“ ist nicht nur lehrreich – durch den Plot der Familiengeschichte baut die Autorin auch ein Spannungselement mit ein. Der Aufbau erinnert stark an einen Krimi mit Hinweisen und Finten. Dabei ist es allerdings nicht immer einfach, Anns Erinnerungen, ihre Rechercheergebnisse, die verschiedenen Beziehungskonstellationen und aktuellen Ereignisse auseinanderzuhalten und einzuordnen.
Für mich zeigt Daryll Delgado mit diesem Roman, dass es gut möglich ist, verschiedene komplexe Themen in einem Buch zu vereinen. Durch den Hintergrund von Anns Mutter behandelt es nämlich auch noch das Thema Auswanderung (auch von Intellektuellen). Und last but not least gibt es eine kleine queere Liebesgeschichte, die aber sehr zurückhaltend integriert wurde.
Die Figuren sind vielschichtig und glaubwürdig gezeichnet, wie echte Menschen eben, die mit widersprüchlichen Gefühlen leben müssen: Trauer, Mut, Schuld, Hoffnung. Die Nebencharaktere wirken mit ihren Eigenheiten und Verletzungen ebenso plastisch wie die Hauptfigur, und gemeinsam zeichnen sie ein breites Bild davon, wie unterschiedliche Menschen mit Verlust umgehen.
Auch sprachlich hat mich das Buch überzeugt: Die Autorin baut immer wieder Sätze, Redewendungen und Ausdrücke auf Waray mit ein – man kann deren Bedeutung zwar aus dem Zusammenhang verstehen; trotzdem finde ich die Übersetzung im Anhang sehr hilfreich. Um ehrlich zu sein, musste ich mich daran erstmal gewöhnen, bis es nicht mehr meinen Lesefluss gestört hat. Aber dann fand ich es spannend, mehr von dieser Sprache zu lesen. Vor allem war ich überrascht, dass ich das ein oder andere Wort aus dem Spanischen kannte – wobei, eigentlich kein Wunder bei der langen Kolonialherrschaft der Spanier. Übrigens fließen die Stationen philippinischer Kolonialgeschichte auch immer wieder in den Text mit ein.
Fazit
Ein gelungenes Buch und außergewöhnlicher Ansatz, um dem Land, der Kultur und den Menschen auf den Philippinen etwas näher zu kommen. Inhaltlich sicher keine leichte Kost, aber Daryll Delgados Schreibstil macht es aushaltbar. Mich hat die Geschichte der Insel Leyte sehr bewegt – alles in allem also eine bereichernde Lektüre für meine literarische Weltreise.
Kostenloses Rezensionsexemplar
Ich habe dieses Buch als kostenloses Rezensionsexemplar vom Kröner-Verlag zur Verfügung gestellt bekommen. Dies beeinflusst in keiner Weise meine Meinung.
Bibliografie

Titel: Überreste
Autorin: Daryll Delgado
Übersetzung: Gabriele Haefs
Verlag & Copyright: Kröner-Verlag
Seitenzahl: 304
Erscheinungstermin: 12.03.2025
Preis: € 25 (Hardcover)