Eigentlich wusste ich schon, dass ich dieses Buch nicht würde lesen wollen. Aber dann habe ich ein interessantes Interview mit Kim de l’Horizon gesehen und so landete es doch noch auf meinem SuB. Im Dezember wurde es für unsere eat.READ.sleep Lesekreis gezogen, da kam ich dann endgültig nicht mehr drum herum. Aber was soll ich sagen, mein erster Eindruck hat sich bestätigt…
Klappentext
Die Erzählfigur in ›Blutbuch‹ identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem Schweizer Vorort, lebt sie nun in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen und fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl. Doch dann erkrankt die Großmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: Warum sind da nur bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit? Wieso vermag sich die Großmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand? Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie.
Dieser Roman ist ein stilistisch und formal einzigartiger Befreiungsakt von den Dingen, die wir ungefragt weitertragen: Geschlechter, Traumata, Klassenzugehörigkeiten. Kim de l’Horizon macht sich auf die Suche nach anderen Arten von Wissen und Überlieferung, Erzählen und Ichwerdung, unterspült dabei die linearen Formen der Familienerzählung und nähert sich einer flüssigen und strömenden Art des Schreibens, die nicht festlegt, sondern öffnet.
Quotes:
Deutscher Buchpreis 2022: Die Begründung der Jury: „Mit einer enormen kreativen Energie sucht die non-binäre Erzählfigur in Kim de l’Horizons Roman ‚Blutbuch‘ nach einer eigenen Sprache.“
Meine Meinung
Wofür das Buch von der Jury gefeiert wird, ist mein größter Kritikpunkt: denn ich fand die Sprache extrem gewöhnungsbedürftig, womit ich nicht meine, dass „man“ durch „mensch“ ersetzt wird, sondern vielmehr die Schweizer Begriffe und vielen Anglizismen, aber vor allem das Zuviel an Informationen:
Zu sagen, dass es sich verdammt himmlisch anfühlt, gefickt zu werden, dass es sich teuflisch gut anfühlt, durch die Strassen zu gehen und zu spüren, wie das Sperma extrem langsam den Körper wieder verlässt, langsamer als Honig, langsamer als die Tannenzapfenmelasse, die du dir immer auf die letzte Fotzelschnitte träufelst. Dass es sich verdammt gut anfühlt, wenn der Samen, diese fremde Lust, zwischen die Pobacken rinnt und diese schambeladene Zone, diese nur in herabsetzender, gewaltvoller Weise benennbare Region unserer Körper spürbar macht. Wie unglaublich sanft und lebendig sich ein penetrierter Arsch anfühlt.
Kim de l’Horizon: Blutbuch, S. 31
So vulgär ist das ganze Buch. Oder sind es einfach nur schlecht geschriebene Sexszenen (ich habe immerhin Iron Flame gelesen und geliebt!)? Fast kommt es mir so vor, als würde es Kim de l’Horizon darauf abzielen, mich abzustoßen.
Obwohl Kim de l’Horizon zum Thema Blutbuche recherchiert hat, ist das Buch kein Sachbuch. Die Darstellungen sind rein subjektiv. Aber ob es jetzt Sexualtherapie, Selbstbeschau oder Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte sein soll; keine Ahnung… Vermutlich soll es einen tiefen Einblick in die Identität einer nonbinären Person bieten; ich befürchte jedoch mich hat es vorher abgehängt.
Das lag zum Teil an der fragmentierten nichtlinearen Erzählweise, die es mir schwer machte, den Erläuterungen zu folgen.
Es beginnt mit Geschichten über die Großmutter und da ist leider schon viel Langweiliges dabei. Dann geht’s um die Mutter, und es wird immer noch nicht interessanter. Außerdem werden die Beziehung zu Großmeer und Meer völlig ausgereizt, wohingegen der Vater oder allgemein männliche Vorfahren komplett ausgespart werden.
Kim erzählt zunächst aus der Ich-Perspektive, dann wird von einem Kind gesprochen, aber ich habe keine Ahnung, ob Kim dieses Kind sein soll.
Im letzten Drittel gibt es dann Passagen, die wie mit der Schreibmaschine getippt wirken. Meer hat die Leben ihrer Vorfahrinnen recherchiert, die bis ins vierzehnte Jahrhundert zurückreichen. Es sind Lebensläufe in Fließtext von verschiedenen Personen, angefangen im vierzehnten Jahrhundert. Sie endet mit dem von Großmeer.
Ich kann ja nachvollziehen, dass man mit dem deutschen Buchpreis die kreative Sprache zum Thema Non-Binarität anerkennen möchte, denn auch ich habe mich beim Lesen tatsächlich immer wieder dabei ertappt, mich zu fragen: ist Kim jetzt als Mädchen oder Junge zur Welt gekommen? Nur leider hat mich weder die Sprache noch die Geschichte angesprochen.
Bei vielen Passagen denke ich mir außerdem, das Buch ist zu künstlerisch, mir fehlt hier einfach der intellektuelle Zugang (Hurz). Und dann bekommt die Geschichte wieder etwas Märchenhaftes, was mir gut gefiel.
Achtung Spoiler!
Aber: am Ende ist die Oma tot und die Mutter lesbisch? Oder habe ich da wieder etwas missverstanden?
Spoiler Ende!
Fazit
Ich empfand „Blutbuch“ als eine extrem schwierige und anstrengende Lektüre. Sowohl in Bezug auf Geschichte, Aufbau und Sprachstil.
Mir kommt es so vor, als hätte das Schreiben des Buches Kim de l’Horizon am meisten gegeben. Eine Art Selbsttherapie. Und das merkt man.
Bibliografie
Titel: Blutbuch
Kim de l’Horizon
Verlag & Copyright: Dumont
Seitenzahl 336
Erscheinungsdatum: 19. Juli 2022
Preis: 24 € (gebunden)