Ich finde es so wichtig, dass inzwischen immer mehr Bücher rund um das Thema „Kinderwunsch“ erscheinen – aber tatsächlich habe ich noch keines gelesen wie „Medulla“. Verena Güntner stellt darin die Frage, was passiert, wenn Schwangere keine Mütter (mehr) werden wollen…
Klappentext
Ein Tag am See, eine Frau geht ins Wasser. Ausbrechen, abbrechen, abtauchen. Ist es Siv, Leyla oder Esther? Die drei sind keine Freundinnen — und doch haben sie eins gemeinsam.
Siv ist Anfang vierzig und mit sich im Reinen: Sie will keine Kinder. Auch dann nicht, als sie überraschend schwanger wird. Jan, mit dem sie in einer offenen Beziehung lebt, erträgt nicht, dass allein Siv darüber entscheidet, wie es weitergehen soll. Leyla und David haben alles darangesetzt, Eltern zu werden. Bis Leyla schwanger wird und unbedingt ihren Körper zurückwill. In Siv findet sie eine unerwartete Verbündete. Auch Esther, Leylas Arbeitskollegin, bekommt ein Kind. Statt ihres Partners Jacob, der sich akribisch auf seine Vaterrolle vorbereitet, nimmt sie Lem zu den Untersuchungen bei der Gynäkologin mit, obwohl sie ihn nur flüchtig kennt. Drei Frauen, die sich den Versuchen der Männer, ihre Körper zu kontrollieren, kompromisslos widersetzen werden. Und die sich dabei näherkommen, als sie es wollten.
Meine Meinung
Das Buch beschäftigt sich mit ungewollter Mutterschaft, Schwangerschaftsabbrüchen und kaputten Beziehungen. Die drei Erzählstränge – Siv, Leyla und Esther – sind klar voneinander abgegrenzt und greifen doch auf intelligente Weise ineinander. Dass jede Geschichte einen eigenen Abschnitt bildet, ist hilfreich, denn „Medulla“ ist kein Roman, den man in einem Rutsch durchliest. Vielmehr ist es ein Buch, das man Stück für Stück verdauen muss – zumindest hat es mich thematisch ziemlich herausgefordert. Denn Verena Güntner schreibt zwar bildhaft, aber auch extrem schonungslos. Manchmal wirkt es, als überzeichne sie bewusst, um zu provozieren – und das funktioniert. Sie spielt mit Rollenbildern, Erwartungen und gesellschaftlichen Konventionen, dreht sie um, stellt sie infrage und hält uns dabei einen unerbittlichen Spiegel vor.
Die Charaktere sind komplex, teils unsympathisch, oft egoistisch und kompromisslos. Aber sie sind glaubwürdig gezeichnet. Ihre Verzweiflung, Überforderung und Ohnmacht sind greifbar.
Allen drei Paaren gemeinsam ist, dass sie in dysfunktionalen, teils toxischen Beziehungen leben, an der Kommunikation scheitern und im Stillstand verharren, weil jede Veränderung noch schmerzhafter wäre.
Dass ich mich mit keiner der Figuren identifizieren oder solidarisieren konnte bzw. wollte, hat mich dabei nicht gestört. Die Charaktere sind gut gezeichnet, wenngleich sie nicht unbedingt sympathisch rüberkommen. Bspw. zeigen sich die weiblichen Figuren durchweg egoistisch und kompromisslos. Außer der Schwangerschaft und dass sie in ihren Beziehungen unglücklich sind, haben die Paare nichts gemeinsam. Oder doch: Allen mangelt es an gesunder Kommunikation. Aber ihre Überforderung wird gut transportiert.
Dabei zeigt uns die Autorin nicht nur weibliche Perspektiven, sondern lässt auch die Männer zu Wort kommen. Das hat mir besonders gut gefallen, denn selten wird so offen thematisiert, wie ohnmächtig Männer in Fragen von Schwangerschaft und Abbruch tatsächlich sind. In diesem Bereich sind nämlich ausnahmsweise sie die Abhängigen – und dass auf diese Weise zu lesen war schon heftig.
„Medulla“ eignet sich hervorragend für Lesekreise, denn es regt zum Nachdenken und Diskutieren an:
- Was hält Paare wirklich zusammen?
- Wie viel Selbstbestimmung ist möglich?
- Sind wir in unseren Entscheidungen wirklich frei?
Einziger kleiner Kritikpunkt: Einige Szenen sind recht eklig und hätten für mich nicht unbedingt sein müssen. Das solltet ihr vor der Lektüre wissen (um im Zweifel drüber hinweg zu blättern).
Fazit
My Body, my choice – klar oder? Oder ist es doch nicht so einfach? Verena Güntner zeigt in „Medulla“ einen differenzierten, klugen Blick auf weibliche Selbstbestimmung, der auch die männliche Perspektive nicht ausspart. Ein mutiger, fordernder und wichtiger Roman, der noch lange nachhallt.
Kostenloses Rezensionsexemplar
Ich habe dieses Buch als kostenloses Rezensionsexemplar vom Dumont-Verlag zur Verfügung gestellt bekommen. Dies beeinflusst in keiner Weise meine Meinung.
Bibliografie

Titel: Medulla
Autorin: Verena Güntner
Verlag & Copyright: Dumont
Seitenzahl: 240
Erscheinungstermin: 16.09.2025
Preis: 24 € (Hardcover)