Mein Chef (ja, ein Mann) hat mich auf dieses Buch aufmerksam gemacht. Zunächst dachte ich, es geht um Autismus allgemein (ich scheine die weibliche Form des Titels völlig überlesen zu haben) und tatsächlich habe ich mir noch nie darüber Gedanken gemacht, ob es einen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Autismus gibt, schließlich bin ich ja nicht davon betroffen. Aber ich fand das Thema interessant und glaubte bei der Lektüre vielleicht etwas für meinen Alltag als Studienberaterin einer physikalischen Fakultät zu lernen. Nie hätte ich gedacht, dass ich dabei auch so viel über mich selbst erfahren würde…
Klappentext
Clara Törnvalls Essay über Autismus bei Frauen ist ein eindringliches, persönliches Buch über die Gefahr von Fehldiagnosen bei Frauen in Medizin und Psychiatrie.
„Ich habe Probleme mit Blickkontakt. Ich kann weder Mimik deuten noch zwischen den Zeilen lesen. Da ist eine permanente Angst und lähmende Müdigkeit.“ Clara Törnvall wusste schon immer, dass etwas mit ihr nicht stimmt, doch erst mit 42 Jahren erhält sie die Diagnose. Sie ist Autistin? Sind das nicht eher sozial inkompatible Männer mit Inselbegabung? In „Die Autistinnen“ erkundet sie, warum es insbesondere bei Frauen oft zu Fehldiagnosen kommt und wer wirklich hinter der mythisch aufgeladenen Figur der Autistin steht. Dabei stößt sie unverhofft auf eigene Idole wie Beatrix Potter, Greta Thunberg und Virginia Woolf. Ein eindringlicher, überraschender und persönlicher Text, der unsere Auffassung von Normalität infrage stellt.
Meine Meinung
„Die Autistinnen“ ist mein zweites Sachbuch, das aus Schweden kommt und mich von der ersten Seite an begeistert hat. Weil ich so unheimlich viel daraus mitnehmen kann. Und auch wenn es sich auf die schwedische Gesellschaft bezieht, kann man vieles auf Deutschland übertragen.
Das Buch ist nicht sehr dick, trotzdem sollte man sich genügend Zeit nehmen, es zu lesen. Die kurzen Kapitel sind bestens geeignet, sie mit kleinen Pausen zu lesen, um das Gelesene anschließend zu verarbeiten.
Clara Törnvall thematisiert verschiedene Bereiche, wie bspw. die fehlende Sichtbarkeit, das Zusammenleben mit anderen, aber auch, was es überhaupt bedeutet, autistisch zu sein. Dabei bedient sie sich zahlreicher weiblicher Biografien aus Gegenwart und Geschichte, die (vermutlich) Autistinnen waren, um deren besondere Herausforderungen im Alltag aufzuzeigen. Das hat für mich die Lektüre noch lebendiger gemacht.
Wie gesagt, war meine Motivation zu Beginn, Studierende mit Autismus besser zu verstehen, sie vielleicht auch einfach erstmal zu erkennen und so meine Beratungskompetenz in dem Bereich zu schärfen. Aber je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigt habe, desto mehr konnte ich mich überraschenderweise selbst in einigen Ausprägungen wieder finden (auch das erklärt die Autorin in ihrem Buch).
Ich kann knallhart sein, wenn ich es darauf anlege, was allerdings oft eher zu Problemen geführt hat. Oft merkte ich nicht einmal, dass man mich als unversöhnlich wahrnahm, sondern fand, dass ich lediglich meinen Standpunkt zum Ausdruck gebracht und mich dabei vielleicht etwas zu drastisch ausgedrückt hatte, um meine Begründung zu unterstreichen und verstanden zu werden. Neurotypiker sind da leider sehr empfindlich.
Clara Törnvall: Autistinnen, S. 209
Dabei spricht sie ganz offen über ihre Diagnose, die wie eine Offenbarung erschien, da der Autismus bei ihr sehr spät erkannt wurde. Auf einmal konnte sie ihr eigenes Verhalten einordnen und erklären.
Es wird also zunächst erstmal erklärt, was Autismus überhaupt ist. Clara Törnvall erläutert, wie unterschiedlich sich eine Autismus-Spektrum-Störung bemerkbar machen kann (vor allem, dass nicht alle Autist*innen so sind wie Rain Man…), dass es aber trotzdem Punkte gibt, die für die meisten Autist*innen zutreffen. Sie gibt uns eine historische und wissenschaftliche Einordnung und widmet sich dann der Frage, wie eine Autismus-Spektrum-Störung erkannt werden kann, dass man bisher nur männlichen Autismus untersucht hat und warum Autismus bei Mädchen und Frauen so oft übersehen wird. Letzteres fand ich wieder einmal allarmierend. Vor allem, weil die fehlenden Diagnosen so eng mit dem vorherrschenden Rollenbildern zusammenhängen.
Sehr spannend fand ich auch das Kapitel zu Beziehungen; von Autist*innen untereinander, aber auch zu neurotypischen Menschen. Ebenso interessant war, wie die Entwicklung in Schulen zu mehr interaktiven Gruppenlernen Autist*innen benachteiligt. Über beide Punkte denke ich immer wieder nach und überlege, ob wir das an der Uni ausreichend in den Lernsituationen berücksichtigen.
Und ich glaube, das ist es, worum es der Autorin geht: dass die Gesellschaft für die Thematik sensibilisiert wird und die blinden Flecken verschwinden. Genauso, wie es bei den Themen Geschlechtergerechtigkeit, Diversität und Rassismus passiert (zumindest in bestimmten Gruppen). Die Bedingungen sollen sich auch den Bedürfnissen von Menschen mit Autismus anpassen, nicht mehr umgekehrt. Dabei hat mich besonders schockiert, dass in Schweden viele Autistinnen arbeitslos sind, dabei gibt es Aufgaben, für die sie besser als alle anderen geeignet wären. Warum in Zeiten von Fachkräftemangel so viel Potenzial ungenutzt bleibt, ist mir ein Rätsel.
Schlussendlich sagt Clara Törnvall zwar, dass sie die Ausnahme ist, wünscht sich aber trotzdem, dass alle so sein sollten wie sie. Und in folgendem Punkt kann ich ihr nur zustimmen:
Nichtautistische Menschen kommen mir zuweilen feige unehrlich und konfliktscheu vor. Sie sagen nie, was sie denken, stattdessen winden sie sich und machen Andeutungen, bis alle Gespräche verwischen oder zerfleddern. Sie haben niedrige moralische Ansprüche an sich und andere, leben selten, was sie vorgeben zu leben, und schämen sich nicht einmal dafür. Sie reden hinter dem Rücken ihrer Freunde schlecht über diese und sind völlig besessen davon, was andere von ihnen denken. Sie leugnen die Wahrheit. Sie brechen Versprechen. Sie sagen, sie würden etwas tun, und tun etwas anderes. Warum stressen Sie sich und andere die ganze Zeit so und können einem nie eine klare Antwort auf eine eindeutige Frage geben?
Clara Törnvall: Die Autistinnen, S. 227f.
Fazit
„Die Autistinnen“ ist ein in meinen Augen ein extrem wichtiges und aufklärendes Sachbuch, das sich zudem noch sehr gut lesen lässt und mich überraschenderweise nicht nur viel über andere, sondern auch über mich selbst gelehrt hat.
Dringende Leseempfehlung an alle; neurotypisch oder nicht.
Kostenloses Rezensionsexemplar
Ich habe dieses Buch als kostenloses Rezensionsexemplar vom Hanserverlag zur Verfügung gestellt bekommen. Dies beeinflusst in keiner Weise meine Meinung.
Bibliografie

Titel: Die Autistinnen
Autorin: Clara Törnvall
Übersetzung: Hanna Granz
Verlag & Copyright: Hanser Berlin
Seitenzahl: 240
Erscheinungstermin: 29. Januar 2024
Preis: 24 € (Hardcover)