Dieses Buch war ein reiner Cover-Kauf. Wie es da so kunstvoll und bunt in der Buchhandlung präsentiert wurde. Der Klappentext klang vielversprechend, also hab ich es mitgenommen.
Inhaltsangabe des Verlags
Was für ein Skandal: Prof. Dr. Saraswati ist WEISS! Schlimmer geht es nicht. Denn die Professorin für Postcolonial Studies in Düsseldorf war eben noch die Übergöttin aller Debatten über Identität – und beschrieb sich als Person of Colour. Als würden Sally Rooney, Beyoncé und Frantz Fanon zusammen Sex Education gucken, beginnt damit eine Jagd nach „echter“ Zugehörigkeit. Während das Netz Saraswati hetzt und Demos ihre Entlassung fordern, stellt ihre Studentin Nivedita ihr intimste Fragen. Mithu Sanyal schreibt mit beglückender Selbstironie und befreiendem Wissen. Den Schleudergang dieses Romans verlässt niemand, wie er*sie ihn betrat.
Meine Meinung
Leider hat es ca. 100 Seiten gedauert, bis ich in der Geschichte drin war, aber danach ließ sie mich auch nicht mehr los. Ob ich allerdings ohne die Eat.Read.Sleep-Leserunde so lange durchgehalten hätte, weiß ich nicht, daher kann ich euch nur raten: gebt dem Buch etwas Zeit, denn es lohnt sich!
Sprachstil
Die Sprache ist kreativ, modern (d.h. mit Anglizismen durchzogen und um Dialoge, Twitternachrichten und Blogposts ergänzt), aber auch herausfordernd. Zum einen musste ich mich sehr konzentrieren, wie bei einer Art Identitätsvorlesung in Romanform. Google war mein ständiger Begleiter, denn vielen Wörtern konnte ich keine Bedeutung zuweisen. Zum anderen setzt sich Nivedita sehr unverblümt mit ihrer Sexualität auseinander. Das war teilweise einfach nicht so meins.
Aber die akademische Atmosphäre kommt rüber.
Vielstimmig
Zu Beginn etwas befremdlich ist der unbeteiligte Erzähler, denn von allen Figuren wird in der dritten Person berichtet. Man hat also die ganze Zeit das Gefühl, von außen auf die Geschehnisse zu blicken und nie Teil davon zu sein. Daher baut sich auch keine Beziehung zu den Charakteren auf.
Figuren und Handlung
Die Grundidee des Buches erscheint recht kühn und provokant – also, dass sich Sarah Vera Thielmann aus Karlsruhe operativ in eine Inderin verwandeln lässt und anschließend Karriere als Professorin für Race und Identitätsforschung macht. Damit wirft die Autorin spannende Fragen und Diskussionen auf, denn die Figur der Saraswati argumentiert mit der Parallele zur Genderdebatte, bei der es ja auch jeder Person frei steht, sich für (k)ein Geschlecht zu entscheiden. Wieso sollte das bei Identität anders sein? Ist es denn nicht auch „nur“ ein theoretisches Konstrukt? Und wenn ja: wofür und für wen?
Nivedita – eine Studentin Saraswatis mit echten indischen Wurzeln – lässt Mithu Sanyal Zwiegespräche mit der indischen Göttin Kali führen. Auch ein interessanter Ansatz, der für mich aber nur so lange funktionierte, bis es am Ende einen mystischen Touch bekam. Das hätte es für mich echt nicht gebraucht, insbesondere weil es für den Handlungsfortschritt nicht erforderlich gewesen wäre.
Gleiches gilt für ihre fast schon toxische Beziehung zu Simon, die habe ich auch nicht kapiert.
Last but not least zieht sich durch das ganze Buch eine sexuelle Komponente, die sich mir bis zum Schluss irgendwie nicht ganz erschlossen hat. Wozu musste da jetzt ein Pornodreh eingebaut werden?
Persönlichkeitsbildend
Als weiße, deutsche, heterosexuelle Frau habe ich – vom „Alltagssexismus“ mal abgesehen – Gott sei Dank keine persönliche Erfahrung mit Diskriminierung. Um aber nicht selbst Gefahr zu laufen, derartige Missstände (wenngleich ungewollt) in irgendeiner Form zu unterstützen, versuche ich, mit so vielen verschiedenen Menschen ins Gespräch zu kommen und so viele Bücher, sei es biografisch oder fiktional, darüber zu lesen, wie möglich. Denn ich glaube, Kommunikation ist der Schlüssel zu Akzeptanz, Toleranz und einem friedlichen Miteinander. Und je mehr Geschichten, Lebensweisen und Heimatländer ich kennen lerne, desto mehr Perspektiven kann ich einnehmen und verstehen. Gleichzeitig fällt es mir immer schwerer, herrschende Ungleichheiten zu übersehen, zu ignorieren oder gar nachzuvollziehen. Für die Identitätsthematik hat mir dieses Buch enorm viel gebracht.
Regt zum Nachdenken an
Es ist nicht das erste Buch, das mir aufzeigt, wie wenig ich über die Deutsche (oder generell) Kolonialgeschichte weiß. Ich habe mir ehrlich gesagt auch noch nie Gedanken über Identitätssuche gemacht. Was es bedeutet, nicht in dem Heimatland meiner Vorfahr*innen zu leben und was das mit einer/einem macht. Ich habe also durch die Lektüre viel gelernt, vor allem, weil die Autorin es schafft, lehrreich, ohne belehrend zu sein.
Gesellschaftskritischer Roman
Ähnlich so, wie wir zur WM alle zu Fußballmanagern mutieren, wird hier demonstriert, wie sich Millionen von Menschen auf einmal zu Rassismusexpert*innen mausern. Zumindest im anonymen Social Media Raum. Die Autorin hält uns damit einen Spiegel vor und ich weiß nicht, ob das, was wir darin sehen, so vorteilhaft ist…
Fiktion meets Reality
Im Nachwort erfahren wir, dass die eingestreuten Tweeds, Instagram- und Facebookeinträge nicht der Fantasie der Autorin entsprangen, sondern sie verschiedene Personen gebeten hat, auf ihren fiktionalen Fall Saraswati, echte Reaktionen zur Verfügung zu stellen. G.R.A.N.D.I.O.S.!
Lesekreisbuch
Ich habe den Roman im Rahmen unseres Eat.Read.Sleep Lesekreises gelesen. Dafür ist es tatsächlich hervorragend geeignet und ich würde fast empfehlen, es nicht allein zu lesen. Denn ich wollte nicht nur über das Buch, sondern auch über die darin angesprochenen Thematiken sprechen.
Fazit
„Identitti“ ist ein meisterhaft konstruierter Roman, aktuell und unterhaltsam geschrieben. Allerdings kann ich auch nicht behaupten, dass ich das Buch gern gelesen habe, dafür war es zu dicht, zu anstrengend zu unbequem, aber ich bin sehr froh, dass ich es gelesen habe. Denn es erweitert den eigenen Blickwinkel und regt dazu an, über Identität und Rassismus zu diskutieren.
Bibliografie
Titel: Identitti
Autorin: Mithu Sanyal
Verlag und Copyright: Carl Hanser
Seitenzahl: 432
Erscheinungsdatum: 15.02.2021
Preis: 22 € (gebunden)