Ohne den Buddyread mit Lisa, Sandra und Tamara hätte ich dieses Buch vermutlich nie begonnen. Die Geschichte erschien mir langweilig und nichtssagend. Andererseits habe ich zu kaum einem anderen Buch so viele „Hachs“ oder „Es ist sooo schön“ gelesen oder gehört. Daher ist es dann eben doch auf meiner Liste gelandet. Allerdings konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es eine Geschichte gäbe, die wirklich jeden Büchermenschen glücklich machen würde.
Aber genauso ist es.
Und so beginne ich – zum ersten Mal in meinem Bücherleben – mit Post Its Seiten zu markieren, um immer wieder in die Passagen einzutauchen, die besonders schöne Zitate enthalten.
Wie bspw. der folgende Abschnitt:
In der Küche erkannte er den Holzofen wieder, neben dem neuen Gasherd und Kühlschrank. Er strich mit einer Hand über den alten Küchentisch, den sie so belassen hatte, wie er war. Mit all seiner abblätternden Geschichte.
Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse, S. 290
Klappentext
Chase Andrews stirbt, und die Bewohner der ruhigen Küstenstadt Barkley Cove sind sich einig: Schuld ist das Marschmädchen. Kya Clark lebt isoliert im Marschland mit seinen Salzwiesen und Sandbänken. Sie kennt jeden Stein und Seevogel, jede Muschel und Pflanze. Als zwei junge Männer auf die wilde Schöne aufmerksam werden, öffnet Kya sich einem neuen Leben – mit dramatischen Folgen.
Delia Owens erzählt intensiv und atmosphärisch davon, dass wir für immer die Kinder bleiben, die wir einmal waren. Und den Geheimnissen und der Gewalt der Natur nichts entgegensetzen können.
Charaktere
Jeder einzelnen Figur (auch den unsympathischen) ist die liebevolle und detailreiche Ausarbeitung anzumerken. Dabei wählt die Autorin für ihre Charaktere selten den einfachen Weg. Aber gerade das macht sie so nahbar. Besonders an Herz gewachsen sind mir Kya, Jumpin und Tate (vielleicht auch, weil sie Luise Helm so treffend einliest).
Meine Meinung zur Handlung
Ich dachte zunächst in „Gesang der Flusskrebse“, geht es eher um die Atmosphäre und Charaktere, nicht um den Inhalt. Insbesondere weil ja eigentlich auch nicht sonderlich viel passiert. Man begleitet die Protagonistin Kya durch ihr hartes Leben; seit ihrer Kindheit von einem Menschen nach dem anderen verlassen. Doch das ist nur der oberflächliche Blick auf die Geschichte. Mit jeder Seite zieht uns die Autorin tiefer in die Marsch. Es geht um Einsamkeit und was sie mit uns macht. Es geht um ein Leben in Einklang mit der Natur. Es geht um Liebe, Vertrauen und Verlassenwerden. Und ums nackte Überleben.
Sehr pfiffig fand ich die zweite Zeitebene auf die wir unvermeidlich zusteuern, während wir Kya beim Erwachsenwerden zusehen. Dabei geht es um den Todesfall eines Mannes, dessen Geschichte für einen Atemzug lang Kyas gekreuzt hat. Mit Bravur gelingt es der Autorin die aufeinander zulaufenden Zeitebenen zu beschreiben, ohne dass die jüngere zu viel von der älteren verrät. Und je mehr sich beide Handlungsstränge annähern, desto mehr verwandelt sich die Geschichte des Marschmädchens in einen Kriminalroman. Stimmungsvolle Beschreibungen von Landschaften, Gefühlen und Begegnungen weichen einem Spannungsbogen, der Agatha Christie alle Ehre gemacht hätte. Und so springen meine Gedanken zwischen Unfall, Mord und möglichen Täter:in nen hin und her, Hoffnung und Gewissheit gegeneinander abwiegend, wartend auf die Auflösung von Chase Andrews Tod und die Erlösung meiner Nerven.
Ich habe mich noch nie so verzweifelt nach einem Happy End gesehnt. Doch man kann vom Schluss weder das eine noch das andere behaupten, außer eines: er ist sensationell!
Schreibstil
Schon immer fand ich es eher befremdlich, wenn Rezensionen die „schöne Sprache“ eines Buches betonten.
Doch während die Handlung eher aus Nichtigkeiten denn aus Wichtigkeiten zu bestehen scheint, verleiht die Autorin scheinbar Belanglosem allein dadurch Bedeutung, dass sie es in hübsche Wörter verpackt.
Und so gleicht die Sprache des Buches auch eher der eines Gedichtbandes. Sehr geschickt werden sporadisch Verszeilen in die Geschichte eingewoben, wie bspw. mein Liebstes:
Ich muss jetzt loslassen.
Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse, S. 267 f.
Dich loslassen.
Liebe ist zu oft
Der Anlass zu bleiben.
Zu selten der Grund
Zu gehen.
Ich löse das Tau
Und seh dich davontreiben.
Auch wenn ich gern würde: mehr kann ich dazu leider nicht verraten, ohne zu spoilern.
Ebenfalls dem Schreibstil der Autorin geschuldet, entwickelt das Buch eine regelrechte Sogwirkung. Die Atmosphäre, die Marsch, Kya, Jumpin und Tate ließen mich einfach nicht mehr los.
Zur Unterscheidung beider Zeitebenen, wird unter jedem Kapitel zunächst die Jahreszahl angegeben, was ich sehr hilfreich fand. Insbesondere, da mir die Beschreibungen der Marsch eher zeitlos vorkamen.
Nichts für Eilige
Dieses Buch braucht Zeit, um sich zu entwickeln. Aber einen besonderen Rotwein würdet ihr ja auch nicht gierig aus der Flasche trinken, sondern atmen lassen, vielleicht sogar dekantieren und ihn dann aus besonders schönen Gläsern genießen.
Ich habe lieber gelauscht als gelesen
Wegen eines so profanen Grundes wie Zeitmangel, habe ich das Buch zunächst als Hörbuch begonnen. Normalerweise kann ich diesem Medium nichts abgewinnen, aber Luise Helm liest das Buch so exzellent, so einfühlsam ein, und überträgt den Dialekt North Carolinas so passend ins Deutsche, dass ich, wenn ich mich entscheiden müsste, das Hörbuch an erster Stelle empfehlen würde.
Fazit
Letztendlich kann ich gar nicht sagen, was mich an diesem Buch so stark gefesselt hat, außer dass mich die außergewöhnliche Geschichte des Marschmädchens sehr berührt hat. Delia Owens ist ein Roman gelungen, der innen ebenso wie außen einfach nur schön ist.
Ich kann wahrlich kaum glauben, dass es ein Romandebüt sein soll.
Die Geschichte hat etwas von einem Geschenk, das man von einem lieben Menschen bekommen hat, der um die eigene Leidenschaft für Bücher weiß.
Daher nicht nur eine ganz eindeutige Leseempfehlung, sondern insbesondere auch ein wertvoller Geschenktipp für alle Büchermenschen.
Ich beneide jeden Menschen mit Wehmut, der das Glück hat, diese Geschichte zum ersten Mal lesen (oder hören) zu dürfen…
Infos
Titel: Der Gesang der Flusskrebse
Autorin: Delia Owens
Übersetzung: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
Verlag und Copyright: Hanserblau
Seitenzahl: 464
Erscheinungsdatum: 22. Juli 2019
Preis: 22 € (gebunden)
Hörbuch erschienen bei HörbucHHamburg
gelesen von: Julie Herms
Erscheinungsdatum: 26. Juli 2019
Preis: 11,95 €
Hallo Yvonne
Wie toll du die Geschichte beschrieben hast.
Dem kann ich nichts hinzufügen.
Mir ist beim lesen deiner Rezension auch ein ,,Hach“und ,,wie schön“über die Lippen gekommen.
Das Buch ist ein Schatz mit jeder Seite wertvoll.
Danke das ich dich ein bißchen über diesen Weg kennenlernen durfte .
LG Sandra
Liebe Sandra,
wie lieb von Dir! Mir hat der Buddyread und der Austausch mit Dir sehr viel Freude bereitet, ich freue mich schon auf den nächsten.
LG, Yvonne