Normalerweise mache ich einen Bogen um Bücher, in denen die Protagonist*innen Tiere sind. Da mache ich auch für meine geliebten Katzen keine Ausnahme. Von daher weiß ich ehrlich gesagt gar nicht mehr, wie ich auf dieses Buch aufmerksam wurde. Oder besser gesagt, auf dieses Hörbuch, denn ich habe mir die Geschichte zuerst vorlesen lassen. Und dann hat mich die Sprache dieses Buches so sehr begeistert, dass ich es unbedingt auch noch einmal lesen wollte!
Klappentext
Die großen Fragen der Menschheit – betrachtet von einem einzigartigen Kater: Matou. Sein Leben ist ein Sieben-Leben-Leben, es reicht von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart. Seine Leidenschaft ist es, den Menschen verstehen zu lernen. E.T.A. Hoffmann und Andy Warhol kannte er persönlich, auf der Katzeninsel Hydra führte er einst einen autokratischen Staat und kämpfte im Kongo gegen die Kolonialherren. Matous Leben sind voller großer Abenteuer, er ist ein wilder Geschichtenerzähler und ein noch größerer Philosoph. Er ist der Homer der Katzen. Der neue große Roman von Michael Köhlmeier ist eine Liebeserklärung an Mensch und Tier: voller Sprachwitz und Ironie. Ein Geniestreich.
Meine Meinung
Eigentlich ist der Klappentext schon eine präzise Rezension. Doch hält das Buch wirklich, was er verspricht? Dazu gehen wir am besten Matous sieben Leben nacheinander durch (natürlich ohne zu spoilern!).
Sprache
Doch zuvor noch einige Worte zur Sprache des Romans, die mich dazu verführt hat, die Geschichte nicht nur zu hören, sondern anschließend noch einmal lesen zu wollen. Und das bei 1000 Seiten! Der Schreibstil ist wunderschön, fast schon poetisch, dazu vielfältig und ausgesprochen humorvoll.
Dabei spricht uns Matou immer wieder direkt an. Bspw. nimmt er vorweg, was wir beim Lesen des Buches denken könnten und geht sofort darauf ein, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen:
Was schaust du so? Eine Katze, die liebt – was! Bist du einer von den verfluchten Zynikern und hast jetzt ein schiefes Grinsen in der Fresse? Dann klapp das Buch zu, hau es weg oder verschenk es weiter! Schleich dich! Ich will mit dir nichts zu tun haben!
Michael Köhlmeier: MATOU, S. 48
Natürlich sind 1000 Seiten schon ein Hammer, aber es ist wirklich keine Seite zu viel. Stattdessen fliege ich durch die Geschichten und versuche gleichzeitig meine Lesefluss zu bremsen, um mir jede Zeile auf der Zunge zergehen zu lassen. Wie 1000 handgemachte Pralinen.
Doch jetzt zum Plot und Matous sieben Leben
Die Rahmenhandlung ist gewissermaßen in sein aktuelles letztes Leben eingebettet. Als selbstbewusster und Lebenskluger Kater verfasst er seine Memoiren bzw. will seine Gedanken und Erkenntnisse für die Nachwelt festhalten.
Wenn er stirbt, während er noch Leben vor sich hat, kommt er ins „Weggemachte“ – im Prinzip so etwas wie unser „Jenseits“. Es wird so genannt, weil dort jedes Zipperlein des Diesseits weggemacht ist. Dort gibt es für jede Katze einen eigenen großen Katalog, aus dem sie sich das nächste Leben auswählen kann.
Matous erstes Herrchen war Benoît Camille Desmoulins, der Bestürmer der Bastille. Es geht also sehr historisch los. In seinen späteren Aufzeichnungen finden sich auch authentisch Berichte über Charles de Gaulles und Konrad Adenauer. Dabei wird man historisch nie überfrachtet. Michael Köhlmeier steigt immer nur dann etwas tiefer in die Geschichte ein, wenn es gerade zu Matous Biografie passt.
Während er uns aus seinen ersten sechs Leben erzählt, schweift er immer wieder ab und fügt Berichte aus seinem aktuellen siebten Leben ein. Liebevoll erzählt er uns von seiner Dame Ingeborg Novak und ihrem Neffen Daniel, zu dem er ein ganz besonderes Verhältnis hat. Und so lernen wir auch diese beiden im Laufe der 1000 Seiten sehr gut kennen. Sie sind beide äußerst lebensecht gezeichnet und furchtbar liebenswert. Daniel hat er übrigens offenbart, dass er Lesen und Schreiben kann. Denn als Student kann er Matou jegliche Literatur besorgen, nach der es ihm verlangt. Dazu muss man wissen, dass der Kater extrem schnell liest und vor allem niemals vergisst, was er in einem seiner Leben gelesen hat. Daher häuft er mit den Jahren in der Tat ein ungeheures Wissen an. Matou liebt es zu philosophieren und mit Daniel kann er sich austauschen. Doch die beiden sind sich nicht immer einig. Matou will einzig und allein, seine Arbeit vollenden und Daniel geht es in dem Alter natürlich um ein Mädchen – und seinen besten Freund…
In seinem zweiten Leben wird Matou erstmal zum Streuner, obwohl er sich doch eigentlich einen deutschen Dichter ausgesucht hatte! Dieses Kapitel ist besonders amüsant geschrieben, bspw. knüpft er unterwegs diplomatische Beziehungen zu einem Floh, der auf der Flucht vor seinem Flohzirkus ist. Letztendlich kommt Matou doch noch bei einem deutschen Dichter unter, der sein Herrchen wurde. Er war es auch, der ihm Lesen und Schreiben beibrachte. Und der ihn aufforderte auf Reisen zu gehen. Schließlich muss man etwas erlebt haben, um etwas erzählen zu können. Also begab sich der Kater auf ein Schiff und erleidet prompt Schiffbruch. Die Lage, in die er und die überlebenden Mannschaftsmitglieder dann geraten, eignet sich natürlich wieder wunderbar zum Philosophieren und um die wichtigen Fragen des Lebens zu stellen.
Im dritten Leben ist er der Letzte im Wurf, intelligent, aber schwach. Er realisiert sofort, dass er einen Beschützer brauchen würde, also tat er sich mit seinem großen kräftigen aber nicht ganz so schlauen Bruder zusammen – oder besser gesagt:
Ich beschloss, ihn zu meinem Diener zu machen, zu meinem Jünger.
Michael Köhlmeier: Matou, S. 326
Sie befinden sich auf der Katzeninsel Hydra, auf der es keine Menschen gibt. Das Gespann aus den zwei ungleichen Brüdern gefällt mir richtig gut. Matou erklärt ihm die verschiedensten Dinge, bspw. wie man charismatisch wird. Damit schafft er eine Verbindung zu seinem aktuellen Leben, in dem er auch Daniel versucht, Charisma beizubringen und ihm Beziehungstipps gibt. Es geht um die ganz große Liebe, denn die findet auch Matou auf Hydra. Und da er sich für den intelligentesten Kater der Insel hält, versucht er den anderen die Ökonomie der Mäusezucht näher zu bringen, lässt sich zum König krönen und ruft eine Geheimpolizei ins Leben. Es ist wirklich ein sehr unterhaltsames Kapitel!
Als er nach diesem doch sehr perfekten Leben zum dritten Mal ins Weggemachte kommt, passiert etwas, was ich an dieser Stelle nicht spoilern will. Aber es hat mit seinem dritten und vierten Leben zu tun und ich habe dabei nicht nur eine Träne verdrückt.
Das vierte Leben ist wieder ganz anders, ein wenig wie eine Fabel. Es gibt nur Gut und Böse, Intrigen und Listigkeit und natürlich eine Moral von der Geschichte. Matou findet sich als Leopard in der Wildnis wieder. Er ist also nicht wie sonst das kleine Kätzchen, was dadurch unterstrichen wird, dass er von sich in der dritten Person spricht. Als ob er sich von diesem Leben distanzieren will (was wiederum mit den Vorfällen im Weggemachten zu tun hat). Überwiegend in Versform geschrieben, zeigt es die unglaubliche Vielseitigkeit des Autors. Wobei ich gar nicht weiß, ob ich damit Matou oder Michael Köhlmeier meine… Normalerweise tue ich mich mit experimentellen Schreibstilen ja immer etwas schwer, aber wenn man sich in diesem Fall darauf einlässt, ist es einfach nur wunderschön! Philosophisch betrachtet, geht es darum, was Menschen sind und was die Seele. Es ist etwas seltsam, sich das von einer Großkatze erklären zu lassen.
Im fünften Leben kommt Matou in Prag zur Welt und landet bei einem wohlhabenden Paar mit einer riesigen Bibliothek. Seine neue Dame verhätschelt ihn völlig. Sie ist nur halb so alt wie ihr Mann und will etwas Besonderes sein. Matou spricht zwar nicht mit ihr, aber verhält sich so, als ob er sie verstünde (natürlich versteht er alle Menschen). Sie nimmt ihn mit zum Zeichenkurs und trägt ihn überall mit sich herum. Doch nachdem er jemanden aus einem früheren Leben wiedergetroffen hat, landet er bei einem Leoparden im Zirkus. Dort gibt es auch einen „sprechenden“ Affen, der fürchterliche Angst vor dem Tod hat. Und was Matou mit dem für Spielchen treibt, ist schon wieder spannend philosophisch.
Beim fünften Mal im Weggemachten will er mit der Katze, die die Ankommenden empfängt und ihnen alles erklärt, über seine restlichen Leben verhandeln. Er hätte nämlich gern neun Leben, wie die britischen oder amerikanischen Katzen. Aber das wird ihm verwehrt. Stattdessen darf er ein Leben in Amerika verbringen.
Dort wäre er in seinem sechsten Leben beinahe direkt eingeschläfert worden. Doch er wird gerettet – durch Andy Warhol… Jetzt lernen wir also auch noch etwas über die Kunstszene.
Das vorletzte Kapitel ist sein letztes Mal im Weggemachten. Wir springen noch einmal kurz zum Ende der Geschichte mit Daniel und seiner Tante, was für mich die sieben Leben wunderbar abrundet.
Schlussendlich muss sich auch Matou mit seiner eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen, denn das nächste Mal wird er endgültig tot sein. Und das bietet nochmal die ganz große philosophische Auseinandersetzung: Was ist der Kater? Was ist er, wenn er nicht mehr ist?
Fazit
Ein absolutes Lese-Highlight! In meinen Augen wird das Buch seinem Klappentext also mehr als gerecht, denn es ist rundherum wunderschön: das Cover, die Haptik der Seiten, die Sprache und die Figuren. Das Beste sind jedoch Matous Abenteuer und seine philosophischen Gedanken und Erkenntnisse.
Hörbuchfreund*innen ist die Geschichte besonders zu empfehlen, denn Michael Köhlmeier hat den Roman unfassbar charmant eingelesen.
Philosophie sollte man aber schon mögen.
Bibliografie

Titel: MATOU
Autor: Michael Köhlmeier
Verlag & Copyright: Hanser
Seitenzahl: 960
Erscheinungsdatum: 23. August 2021
Preis: 34 € (Hardcover)