The Five von Hallie Rubenhold

Wieso liegt der Fokus bei Verbrechen eigentlich immer auf den Täter:innen, aber nie auf den Opfern?  Weil wir vom Bösen fasziniert sind? Weil Bösewichte die interessanteren Figuren abgeben?
Wenn ich euch bspw. nach dem Namen des Serienkillers frage, der Ende des 19. Jahrhunderts in London sein Unwesen trieb, fällt euch mit Sicherheit direkt Jack the Ripper ein. Aber was könnt ihr mir über die Frauen erzählen, die von ihm ermordet wurden?
In ihrem Buch „The Five“ wechselt Hallie Rubenhold den Blickwinkel und berichtet uns von seinen Opfern. Dabei geht es ihr weniger um die Morde an sich ­–Jack the Ripper erhielt noch nicht einmal einen Cameo-Auftritt – sondern vielmehr um ihre tragischen Lebenswege. Damit gibt sie ihnen nicht nur eine Stimme, sondern gewährt uns anhand ihrer Schicksale auch einen sehr authentischen Einblick in das Leben als Frau im viktorianischen Zeitalter. Und jetzt bin ich irgendwie schon mittendrin in der Rezension…

Klappentext

Mary Ann “Polly” Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catherine Eddowes und Mary Jane Kelly.

Diese fünf Frauen wurden 1888 ermordet. Ihr Tod und noch mehr ihr Leben haben damals kaum jemanden interessiert. Hingegen wurde der unbekannte Täter, dem die Presse den Namen Jack the Ripper gab, mit viel Aufmerksamkeit bedacht.
Hallie Rubenhold befreit die fünf ermordeten Frauen aus dem Schatten der Anonymität. In ihren Lebensgeschichten wird eindringlich deutlich, wie hart das Leben als Frau in der Arbeiterschicht zu jener Zeit war und wie katastrophal die Zustände im Armenhaus waren. Und vor allem, wie erbarmungslos die von der viktorianischen Moral geprägte Gesellschaft auf jede Frau blickte, die das ihr zugedachte Konzept der braven Ehefrau und Mutter hinter sich ließ.

Schreibstil

Das Buch ist in einer Art Berichtsstil verfasst und die Sprache wirkt etwas altmodisch. Andererseits passt es gut zum Thema und man gewöhnt sich auch sehr schnell daran.

Nah am Sachbuch

Hallie Rubenhold muss hunderte Stunden in alten und staubigen Archiven verbracht haben, um all die Artikel, Berichte und Fotos zu sichten und zu sortieren. Ich stelle es mir sowohl schwierig als auch spannend vor, nach so langer Zeit zu versuchen, die wahren Ereignisse zu rekonstruieren.

Jedenfalls wirkt das Buch auf mich äußerst gut und umfassend recherchiert; sie verarbeitet sogar einiges an bislang ungesehenem bzw. unveröffentlichtem Material.

In der Mitte des Buches sind einige Zeitungsausschnitte abgedruckt. Sie berichten über die Morde, und das bebildert (Zeichnungen)! Insgesamt enthält das Buch viel Zusatzmaterial wie bspw. eine Straßenkarte von London oder nähere Informationen über die Bedeutung von Prostitution in jener Zeit.

Ich gestehe, ich hatte wirklich null Vorkenntnisse zu dem Thema. Auch über das viktorianische Zeitalter wusste ich rein gar nichts – ihr wisst ja, Geschichte zählte nicht unbedingt zu meinen Lieblingsfächern in der Schule. Daher bin ich immer begeistert, wenn es ein Buch schafft, mir wie nebenbei etwas beizubringen. Bspw. über die damaligen Verhältnisse. Wusstet ihr, dass Wohltätigkeit vom Staat sanktioniert wurde, damit die Vorstellung, in ein Armenhaus zu müssen, jedermann (bzw. insbesondere jede Frau) so viel Schrecken verbreitet, dass man Vater Staat unter gar keinen Umständen aus Bequemlichkeit auf der Tasche liegt? Da kriege ich jetzt noch Gänsehaut.

Aufbau und Handlung

Aufgeteilt ist das Buch in die Geschichten der fünf Opfer:

Polly

Die Ausgangsbedingungen für Polly sind eigentlich recht positiv: Ihr Vater verdient genug, um die Familie zu ernähren und abseits der Norm darf sie sogar eine Schule besuchen. Doch als ihre Mutter stirbt, fällt ihr der Haushalt zu und ihr Leben nimmt den üblichen Verlauf eines Mädchens der damaligen Zeit: Sie heiratet und bekommt ein Kind nach dem anderen. Trotzdem geht es ihnen verhältnismäßig gut, von einem selbstbestimmten Leben kann jedoch keine Rede sein. Dies zeigt sich deutlich daran, dass Polly ihre Kinder beim treulosen Ehemann zurücklässt und für sich selbst die erschreckenden Zustände von Armenhaus und Notunterkünften vorzieht. Mich macht die Doppelmoral heute noch wütend. Ohne Mann war eine Frau nichts wert, der Weg in die Armut vorgezeichnet.

Was mir an der Darstellung von Pollys Geschichte gut gefallen hat, war, dass auch die Berichterstattung über ihren Mord und die diesbezüglichen polizeilichen Ermittlungen erläutert wurden. Wir erfahren, dass vielen Frauen gar nichts anderes übrig blieb, als sich zu prostituieren. Aber auch, dass es sehr kurzsichtig war, so schnell davon auszugehen, dass Jack the Ripper nur Prostituierte tötete. Gesichert scheint einzig die Information zu sein, dass er Frauen im Schlaf tötete.

Annie

Dass es sich die damalige Polizei und Politik etwas zu einfach machte, zeigt auch das zweite Opfer ohne Beweise auf Prostitution.

Die Geschichte von Annie Chapman beginnt sogar schon bei der Kindheit ihrer Mutter. Uns werden insbesondere die fatalen Hygienezustände und deren Auswirkungen vor Augen geführt. Wenn man dieses Kapitel während einer weltweiten Pandemie liest, kann man sich noch viel weniger vorstellen, dass es immer noch Menschen gibt, die eine verfügbare und zudem Kostenfreie Impfung ausschlagen.

Schon mit aus heutiger Sicht simplem Penicillin hätte Annies Schicksal vermutlich ganz anders ausgesehen. Ihre vier Geschwister hätten überlebt und damit auch ihr Vater. Wieder wird erschreckend deutlich, wie stark Frauen von Männern abhängig waren. Ebenso traurig zu lesen ist, wie alltäglich der Tod von Kindern scheint. Der Vergleich zum Tierreich kommt mir in den Sinn, wo auch nur die Stärksten eines Wurfes die ersten Monate und Jahre überleben.

Trotzdem sah Annies Zukunft durchaus rosig aus: Ein anständiger Mann, ein gutes Zuhause – doch sie verfiel dem Alkohol und

Der Mörder in jener Nacht beraubte sie nur dessen, was die Alkoholsucht übriggelassen hatte.

Hallie Rubenhold: „The Five“, S. 171

Bevor ihr Vater starb, war er Soldat. Die Einblicke in das Leben im Regiment fand ich ebenfalls sehr interessant.

Mit der zweiten Geschichte wird der Berichtstil immer ausgeprägter. Anders als bei Romanen kommt keinerlei Atmosphäre auf. Stattdessen steigt mit genauen Angaben zu Personen und Orten der Grad der Detailliertheit. Das Lesen wird schwerfälliger; insbesondere die komplexen Namen, die mit Titeln und sämtlichen Vornamen oft bis zu 10 Wörter umfassen können, verwirren und lassen den Eindruck entstehen, man verlöre den Überblick.

Elizabeth

Wie wahrscheinlich war es, dass eine schwedische Bauerstochter in die Fänge Jack the Rippers geriet? Es folgt ein weiteres Beispiel dafür, dass es nur die Frauen sind, die Konsequenzen „untugendhaften“ Verhaltens zu tragen haben. Die Demütigungen, die Frauen auch in Schweden zu erdulden hatten sind einfach unfassbar (Ich sage nur: polizeiliche Untersuchungen von Frauen von der Liste der Schande).

Elisabeth scheint die erste der Fünf zu sein, die wirklich zur Prostitution gezwungen war. Denn einer ledigen Frau ohne Familie bieten sich nur wenig Möglichkeiten für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.

Kate

Auch bei ihr gab es keine Hinweise auf Prostitution und auch ihre Geschichte beginnt bei ihren Eltern. Man lernt zwar einiges über die Arbeit von „Spenglern“, doch ausufernde, viel zu detailreiche Schilderungen und unnötige Informationen lassen ihr Kapitel langweilig und vor allem langatmig erscheinen. Zudem sind die Vielzahl an Namen und Personen erneut verwirrend und unübersichtlich.

Kurz zusammengefasst war Kate intelligent und ging zur Schule. Nach dem Tod ihrer Eltern kam sie zu Verwandten, traf einen Mann und bekam Kinder. Häusliche Gewalt und Alkohol waren die traurige aber leider gängige Folge. Nach der Trennung blieben nur Alkohol und Almosen ihrer Schwester.

Mary Jane

…verdingte sich nun wirklich als Prostituierte. Sie war beliebt und verfügte aus diesem Grund auch anders als die „gefallenen Frauen“ über Geld.

Über sie ist am wenigsten bekannt, aber wir erfahren viel über die Zusammenführung der „leichten Mädchen“ und ihren Kunden, die arrangierte Anbahnung von Zuhälterinnen und als Ball getarnte Plätze der Begegnung. Es gab äußerst diffizile Regeln der Ansprache – Tinder ist nichts dagegen. Grds. scheint es ein sehr frivoles Zeitalter gewesen zu sein, dass mich an die Cover zahlreicher „Schmuddelheftchen“ erinnerte.

Und wieder ein erschreckendes Detail der Geschichte: Menschenhändlerringe, die Frauen an Bordelle in anderen Städten und im Ausland verkauften.

Ein solches Arrangement wurde auch Mary Jane beinahe zum Verhängnis. Doch ermordet wurde sie weder auf der Straße; Hauseingang oder Hinterhof, sondern in ihrem eigenen Bett…

Fazit

„The Five“ ist eine informative und überwiegend gut lesbare Dokumentation. Geschickt setzt die Autorin die Lebensläufe der fünf Opfer in Verbindung mit den frauenfeindlichen Moralvorstellungen und katastrophalen Lebensumständen der Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts. Doch das Buch ist definitiv nichts für schwache Nerven!

Titel: The Five
Autorin: Hallie Rubenhold
Übersetzung: Susanne Höbel
Verlag und Copyright: Nagel & Kimche
Seitenzahl: 448
Erscheinungsdatum: 21. September 2020
Preis: 24€ (Hardcover)

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