Unsichtbare Frauen von Caroline Criado-Perez

Ich habe noch nie ein so Augen öffnendes, wichtiges und zugleich frustrierendes Buch gelesen. Wie der Titel schon sagt, es betrifft mich persönlich als Frau. Schonungslos zeigt mir die Autorin eine Welt, die scheinbar nur für Männer gemacht ist. Doch leider ist es weder Fantasy noch Science Fiction Roman. Es ist ein Sachbuch und es geht um die Welt, in der ich lebe. In die ich mich bislang blind eingefügt habe, weil ich es nicht anders kenne. Doch einmal ans grelle Tageslicht gezerrt, kann ich die Augen nicht mehr davor verschließen, erkenne ich jeden Tag weitere Analogien zu den Beispielen aus dem Buch. Und werde damit für andere ungemütlich.

Ein Kritikpunkt vorweg

Ich habe das englische Original nicht gelesen, doch dass Stephanie Singh in der Übersetzung entweder selbst das generische Maskulin verwendet oder nicht einheitlich gendert, fand ich gerade bei einem Sachbuch dieser Thematik sehr schade.

Dabei erklärt uns die Autorin doch selbst:

Es zeigte sich, dass die scheinbar geschlechtsneutralen Begriffe nicht als gleichermaßen männlich und weiblich wahrgenommen wurden.“

Caronline Criado-Perez: Unsichtbare Frauen, S. 27

Klappentext

„Unsere Welt ist von Männern für Männer gemacht und tendiert dazu, die Hälfte der Bevölkerung zu ignorieren.“
„Die Warteschlange vor der Toilette, die zu niedrige Durchschnittstemperatur im Büro oder die falsche Dosierung von Medikamenten: Unsere Welt ist nicht für Frauen gemacht, ja, sie kann sogar tödliche Folgen für sie haben. In ihrem bahnbrechenden und international gefeierten Buch zeigt Caroline Criado-Perez, wie Frauen systematisch diskriminiert werden, weil unsere von Big Data beherrschte Welt fast ausschließlich auf männerbezogenen Daten basiert.“

Aufbau und Inhalt

In den sechs Kapiteln

  • Alltagsleben
  • Am Arbeitsplatz
  • Design
  • Der Arztbesuch
  • Öffentliches Leben
  • Wenn etwas schiefgeht

erläutert Caroline Criado-Perez anhand zahlreicher Beispiele die sog. Gender Data Gap, also die Lücke geschlechtsspezifischer Daten, die zur Benachteiligung von Frauen in allen Lebensbereichen führt.

Eine Recherchearbeit, die ihres Gleichen sucht

Aus mehr als 1300 Quellen trägt sie Zahlen, Daten und Fakten zusammen und zeichnet damit ein Bild der Ungleichbehandlung bzw. Nichtberücksichtigung von Frauen, die ich in der heutigen Zeit so nicht mehr erwartet hätte:

  • Wie kann es sein, dass ich eine 17% höhere Wahrscheinlichkeit habe, bei einem Autounfall zu sterben, nur weil bei Crashtests die Anatomie von Frauen unberücksichtigt bleibt?
  • Wie kann es sein, dass die Forschung zu einem Medikament eingestellt wird, nur weil es bei Männern nicht funktioniert?
  • Wie kann es sein, dass bei Entwicklungshilfe die Bedürfnisse der weiblichen Notleidenden unberücksichtigt bleiben?
  • Wie kann es sein, dass Frauen bei der Produktentwicklung nicht mit einbezogen werden, obwohl sie die Zielgruppe darstellen?

Dazu passend beginnt die Autorin mit einem Zitat von Simone de Beauvoir:

Die Vorstellung der Welt ist, wie die Welt selbst, das Produkt der Männer: Sie beschreiben sie von ihrem Standpunkt aus, den sie mit der absoluten Wahrheit gleichsetzen.

Simone de Beauvoir

Ich kann kaum glauben, dass diese Einschätzung auch im Jahr 2021 noch zutrifft. Und wer jetzt genau das gleiche gedacht hat, der lese bitte dieses Buch.

Denn es ist gut recherchiert, ansprechend strukturiert und verständlich geschrieben, aber aufgrund der brisanten Thematik möchte ich folgende Warnungen und Empfehlungen für den Umgang mit der Lektüre aussprechen.

Warnung Nummer Eins

Die Thematik bietet größtmögliches Konfliktpotenzial insbesondere im Diskurs mit dem männlichen Geschlecht. Wenn man also Ehe- bzw. Beziehungsstreitigkeiten vorbeugen will, sollte man sich gut überlegen, wie und ob überhaupt man über dieses Buch spricht.

Buddyread oder Leserunde

Genau aus diesem Grund würde ich empfehlen, das Buch nicht allein zu lesen. Ich habe mich mit einigen anderen Bookstagrammer:innen zusammengetan und konnte so nicht nur meinen großen Diskussionsbedarf bei der Lektüre stillen.

Die Menge an Daten hat mich fast erschlagen und die aufkommende Wut sowie das Gefühl vollkommener Hilflosigkeit trafen mich vollkommen unvorbereitet. In diesen Momenten war der Austausch für mich von unschätzbarem Wert.

Nicht in einem Stück durchlesen

Natürlich ist „Unsichtbare Frauen“ kein Roman, den man an einem Wochenende wegschmökern kann. Auch die Atmosphäre ist alles andere als angenehm. Im Gegenteil, mit jeder Seite scheint die Lektüre anstrengender zu werden.

Doch gerade angesichts der starken Emotionen, die dieses Sachbuch in seiner Nüchternheit hervorruft, sollte man sich die Lektüre in Abschnitte aufteilen. Die Strukturierung des Buches ist dazu bestens geeignet. Auch die gründlich und ausführlich recherchierten Zahlen, Daten und Fakten lassen eine Abschnittsweise Lektüre ratsam erscheinen. Sie zu lesen und zu verarbeiten braucht Zeit (und vor allem genügend Post Its!)

Kritisch hinterfragen

Wie bei jeglicher Wissensaneignung, sollte man natürlich nie einfach so Dinge glauben. Die Autorin ist sehr um einen neutralen Ton bemüht, jedoch gelingt es ihr nicht immer, objektiv und sachlich zu bleiben.

Also geht bitte auch mit den Erkenntnissen aus diesem Buch kritisch um. Es ist einfach, zu dem Schluss zu kommen, dass Datengaps oder deren Nichtberücksichtigung absichtlich erfolgen oder aus Bequemlichkeit hingenommen werden. Vielleicht gibt es ja aber auch noch andere Gründe? Was ist, wenn der weibliche Crashtestdummy schlichtweg auch nicht geeignet ist? Wichtig erscheint mir, existierende Datenlücken wissenschaftlich fundiert zu schließen, d.h. geschlechtsspezifisch zu forschen und die Ergebnisse in die Weiterentwicklung jeglicher Lebensbereiche mit einfließen zu lassen. D.h. es kann nicht nur darum gehen, die Autoindustrie zu zwingen, weibliche Crashtestdummies einzusetzen, sondern auch für die Entwicklung passender weiblicher Crashtestdummies zu sorgen.

Und jetzt?

Es kann vermutlich keine Lösung sein, Autos für Frauen und Männer zu bauen. Doch ich bin mir ziemlich sicher, dass sich Wege finden lassen, Fahrzeuge seinen Insassen anzupassen und jedem Individuum den bestmöglichen Schutz zu bieten. Nur eins sollte klar sein: So wie jetzt kann es nicht bleiben…

Während ich diese Rezension schreibe, hält die Covid-19 Pandemie die ganze Welt in Atem. Ich kann nur inständig hoffen, dass wenigstens die aktuellen Forschungen zu Impfstoffen und Medikamenten geschlechtsspezifisch erfolgen. Mein Bauchgefühl befürchtet jedoch etwas anderes.

Ein erster Schritt ist die Offenlegung dieser Datenlücken und der daraus resultierenden Konsequenzen und dazu leistet dieses Buch einen wertvollen Beitrag.

Fazit

 „Unsichtbare Frauen“ war für mich eine unglaublich wichtige und lehrreiche Lektüre. Es war mein erstes feministisches Buch und bot mir einen guten Einstieg, weil es für die Thematik sensibilisiert und die immer noch existierende Ungleichbehandlung bzw. Nichtberücksichtigung von Frauen offen legt.

Ich würde nicht direkt von einem Herzensbuch sprechen (das wäre bei einem Sachbuch auch etwas schwierig), aber ich möchte dessen Lektüre gern jedem Menschen ganz eindringlich ans Herz legen.

„Unsichtbare Frauen“ zieht definitiv in mein Bücherregal ein, allein schon, um bei Bedarf immer wieder daraus zitieren zu können – gleichzeitig werde ich es wohl bei jeder Gelegenheit verschenken.

Lange Rede, kurzer Sinn: Lest dieses Buch, hinterfragt dieses Buch, aber vor allem: sprecht über dieses Buch (bzw. dessen Thematik)!

Denn echte Gleichberechtigung erlangen wir erst dann, wenn Frauen überall mit einbezogen werden, und ihre Bedürfnisse sowie die Ergebnisse geschlechtsspezifischer Studien berücksichtigt werden.

Infos

Titel: Unsichtbare Frauen
Autorin: Caroline Criado-Perez
Übersetzung: Stephanie Singh
Verlag und Copyright: btb
Seitenzahl: 496
Erscheinungsdatum: 10. Februar 2020
Preis: 15 € (Klappenbroschur)

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