Der Kartograf des Vergessens von Mia Couto

Spätestens in der Coronazeit habe ich angefangen, literarisch in Länder zu reisen, die ich im wirklichen Leben vermutlich niemals zu Gesicht bekommen werde. Ich versuche also ebenso wie Jan von eat.READ.sleep mich durch alle Länder dieser Welt zu lesen. Von ihm stammt auch der Tipp für dieses Buch, das ich gleichzeitig für das diesjährige eat.READ.sleep Bingo gelesen habe. Es geht nach: Mosambik.

Klappentext

Der Dichter Diogo Santiago kehrt in seine Heimatstadt Beira zurück. Alle verehren ihn, doch als er Einsicht erhält in alte Akten der Geheimpolizei, gerät seine Welt ins Wanken.
Während der Zyklon Idai drohend über Beira aufzieht, stürzen neue Wahrheiten auf ihn ein. Sein Vater, auch ein Poet, versuchte, im Geheimen die Verbrechen der Kolonialtruppen zu dokumentieren. Sein Cousin, der eines Tages plötzlich verschwand, war nie der, für den ihn alle hielten. Und was steckt hinter der tragischen Legende des schwarzen Jungen und des weißen Mädchens, die den Tod wählten, weil ihre Liebe verboten war?
Die junge Frau, mit der sich Diogo rätselhaft verbunden fühlt, scheint Teil dieser Geschichten zu sein. Gemeinsam gehen sie auf die Suche nach Antworten, die unter dem Tosen des hereinbrechenden Sturms alle Gewissheiten vernichten.

Meine Meinung

Ich muss gestehen, es hat etwas gedauert, bis ich in die Geschichte hineingefunden habe, auch wenn sie mich gleichzeitig stark beeindruckt hat. Denn Mio Couto unterbricht die Erzählung der Gegenwart (2019) immer wieder mit Briefen, Geheimdienstdokumenten und Tagebuchauszügen – letztere sowohl von Diogo selbst, seinem Vater als auch Inspektor Óscar Campos. Sie stammen überwiegend aus dem Jahr 1973, reichen aber bis 1951 zurück.

Wir begleiten also den Protagonisten zurück nach Mosambik. Die Reise war eine Empfehlung seines Arztes, um den Depressionen Herr zu werden, die Diogo nicht nur den Schlaf rauben. Ausgangspunkt ist eine Kiste mit o.g. Dokumenten des ehemaligen Geheimdienstagenten Inspektor Óscar Campos, der damals Diogos Vater Adriano verhaftet und gefoltert hat und die ihm von Campos Enkelin Liana zugespielt wurde:

Die Dokumente in diesem Karton sind Unterlagen über den Vorgang. Sie können sie behalten, diese Vergangenheit gehört nicht mir.

Mia Couto: Der Kartograf des Vergessens, S. 16

Liana wuchs in einer Pflegefamilie auf und möchte herausfinden, was mit ihrer Mutter geschehen ist. Und so versucht Diogo anhand der Unterlagen und Hilfe von Liana ihre beider Familiengeschichten zu rekonstruieren, die ebenso eng miteinander, wie mit der Geschichte Mosambiks kurz vor und nach den Befreiungskriegen verknüpft ist.

Wie gern würde ich vor den Erinnerungen fliehen, aber jetzt liegt die Vergangenheit vor mir ausgebreitet auf meinem Bett.

Mia Couto: Der Kartograf des Vergessens, S. 16

Allerdings hatte ich erwartet, mehr über die Geschichte Mosambiks zu erfahren. Stattdessen erhalten wir nur einen kleinen Einblick in diese Zeit des Landes und welche Schicksale daraus für die einzelnen Charaktere erwachsen. Leider verirrt man sich schnell im dicht gewebten Netz der zahlreichen Erzählstimmen und Figuren, die alle ihre eigene kleine Geschichte mitbringen (was gleichzeitig auch wieder toll ist). Doch auch, wenn ich nicht alles verstanden habe (bspw. die Rolle der Kirche), setzen Diogo und Liana Stück für Stück das Puzzle zusammen, lüften Familiengeheimnisse und bislang vertuschte Kolonialverbrechen.

Ich habe zwar die Vermutung, dass der Zyklon in dieser Geschichte als Metapher für irgendetwas gedacht ist, halte diesen Punkt jedoch wie Liana:

Erzählen Sie, Diogo, ich möchte Ihre Geschichte hören, auf Metaphern kann ich verzichten.

Mia Couto: Der Kartograf des Vergessens, S. 47

Die Sprache von Mia Coutoist ausgesprochen poetisch

„Die Kinder Gottes können nicht vergeben, nur vergessen. Aber genau genommen vergessen sie auch nicht. Das ist wie mit einem Blatt Papier, das man zerreißt und dann denkt, es sein nie beschrieben worden.“

Mia Couto: Der Kartograf des Vergessens, S. 162f.

und lässt sich durch die kurzen gut strukturierten Kapitel gut lesen. Am Anfang steht immer ein Gedicht des fiktiven Dichters Adriano Santiagos (d.h. da hat Coutos auch noch selber gedichtet…).

Ich konnte zwar die Atmosphäre des Entdeckens oder des herannahenden Sturms nicht spüren, aber der Autor schafft es immer wieder, Bilder zu erzeugen, die mir die Geschichte der portugisischen Kolonialisationszeit näherbringen. Vorwissen zu Mosambik ist übrigens nicht erforderlich.

Fazit

„Der Kartograf des Vergessens“ ist ein vielschichtiger Roman über das Erinnern und Vergessen der eigenen Landes- bzw. Familiengeschichte. Aber man muss sich auf die besondere Erzählstimme des Autors einlassen, nicht umsonst wird ihm Nähe zum magischen Realismus zugesprochen.

Aber dann denke ich, dass es einen guten Einstieg in die Mosambikische Literatur ermöglicht.

Über den Autor (Angaben des Verlags)

Mia Couto, geboren 1955 als Sohn portugiesischer Einwanderer in Beira, Mosambik, gehört zu den herausragenden Schriftstellern des portugiesischsprachigen Afrika. Mehrere Jahre war er als Journalist und Chefredakteur der Zeitungen Tempo und Notícias de Maputo tätig. Seit 1983 veröffentlicht er Romane, Erzählungen und Gedichte. Für sein Werk wurde Couto mehrfach ausgezeichnet, u. a. 2013 mit dem Prémio Camões, 2014 mit dem renommierten Neustadt-Literaturpreis und 2020 mit dem Jan-Michalski-Preis. Mia Couto lebt in Maputo.

Bibliografie

Titel: Der Kartograf des Vergessens
Autor: Mia Couto
Übersetzung: Karin von Schweder-Schreiner
Verlag & Copyright: Unionsverlag
Seitenzahl: 304
Erscheinungsdatum: 11. September 2023
Preis: 24 € (Hardcover)

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