Ihr wisst, ich liebe Mathematik! Ich habe es zwar nicht studiert, aber durch meinen Beruf habe ich es immer mal wieder auch mit Mathe-Studierenden und -professor*innen zu tun. Daher freue ich mich über Geschichten in diesem Setting und fand die Idee super spannend, eine Lerngruppe aus einem Wunderkind und einer Studentin des dritten Lebensalters (so heißt das bei uns tatsächlich) zusammenzustellen. Außerdem las sich die Leseprobe von „Pi mal Daumen“ so locker und leicht, dass ich am liebsten gar nicht mehr aufgehört hätte (ich sage nur: Mittwoch mal Mittwoch gleich Dienstag).
Klappentext
Sie begegnen sich zum ersten Mal in einer Vorlesung: Der hochbegabte Oscar ist 16, hat einen Adelstitel und ist noch nie mit der U-Bahn gefahren. Moni Kosinsky hat drei Enkel, mehrere Nebenjobs und liebt knalligen Lippenstift und hohe Absätze. Sie ist fest entschlossen, sich heimlich den Traum von einem Mathe-Studium zu erfüllen.
Doch im Hörsaal wird Moni für eine Putzfrau gehalten und belächelt. Wie kommt sie dazu, sich für eines der schwierigsten Fächer überhaupt einzuschreiben? Und woher kennt sie den berühmtesten Professor der Uni?
Bald muss nicht nur Oscar feststellen, dass Monis Verstand und Beharrlichkeit größer sind als ihre Wissenslücken. Denn Mathematik schert sich nicht um Fragen der Herkunft, des Alters und des Aussehens. Oscar dagegen kämpft mit dem Alltag und findet ausgerechnet in der warmherzigen Moni eine Vertraute, die seinem Leben eine entscheidende Wendung gibt. Bald verbindet die beiden Außenseiter eine Freundschaft, die niemand für möglich gehalten hätte.
Meine Meinung
„Pi mal Daumen“ besticht zum einen durch die zwei unterschiedlichen Protagonist*innen und zum anderen durch die Mathematik, die die beiden verbindet.
Dabei spielt die Autorin mit stereotypen Charakteren, die zwar in sich stimmig, aber doch gekonnt überzeichnet sind und lässt zwei Welten aufeinanderprallen: Oberschicht und Proletariat.
Und auch wenn ich weder hochbegabt noch in prekären Verhältnissen aufgewachsen bin, kann ich mich in beiden Protagonist*innen wiederfinden und zwar durch die Mathematik: Sowohl in Oscars Bedürfnis nach Struktur und Logik als auch in Monis Wunsch, sie wirklich zu begreifen.
Ich kannte auch das mit nichts zu vergleichende Glück, wenn der Knoten gelöst war und sich der Lösungsweg wie eine wunderschöne Perlenkette auffädeln ließ, ein Talisman für die nächsten Stunden, wenn alles auf der Welt plötzlich transparent und lösbar erschien.
Alina Bronsky: Pi mal Daumen, S. 228
Erzählt wird die Geschichte aus Oscars Perspektive. Auf den ersten Blick erscheint er arrogant und überheblich, was sich durch den Einblick in seine Gedanken und Gefühle jedoch mit der Zeit relativiert, denn eigentlich zeigen sich darin nur seine autistischen Züge. Die Figur erinnert stark an den theoretischen Physiker Sheldon Cooper aus „The Big Bang Theory“ und durch den gewählten Ich-Stil schafft es Alina Bronsky, dass man Oscar zwar sehr anstrengend, aber gleichzeitig auch irgendwie liebenswert findet.
Ich las die anderen Aufgaben durch. (…) Ich spürte so etwas wie Ärger: Herbst machte es uns zu leicht. Er wollte auch die ewig nöligen Mathematiklehrer im Studium halten, bevor sie auf Kunst umsattelten oder ganz in der Gosse landeten.
Alina Bronsky: Pi mal Daumen: S. 167
Moni erinnert mich hingegen an Fran Fine aus „Die Nanny“. Sie ist einem sofort sympathisch und mit fortschreitender Handlung können wir ihre Entwicklung zur Mathematikerin miterleben. Etwas unrealistisch fand ich allerdings die Darstellung, wie sie es schafft, mit drei Jobs ein Mathematikstudium zu beginnen. Ihr Stammbaum birgt übrigens noch ein Geheimnis, das die Handlung zum Ende hin sogar noch ziemlich spannend werden lässt.
Auch die Nebenfiguren sind so lebensecht gezeichnet, dass ich sie direkt vor Augen hatte. Insbesondere Oscars Eltern haben mir gut gefallen. Anfangs hält man sie vielleicht noch für herzlos, aber dann beginnt man sie doch zu verstehen.
Vor allem aber hat mir die Dynamik zwischen Oscar und Moni gut gefallen, also wie sich aus der Zweckgemeinschaft dieser ungleichen Figuren eine echte Freundschaft entwickelt.
Auch der Sprachstil ist großartig; Oscars Gedankengänge oder auch die Dialoge sind unterhaltsam und mit viel Wortwitz geschrieben, teilweise kam ich aus dem Schmunzeln gar nicht mehr raus. Dabei ist es jedoch von Vorteil, wenn man über Mathekenntnisse verfügt (oder wie ich Spaß daran hat, Fachbegriffe wie bspw. Lineare Unabhängigkeit nachzulesen). Denn Mathematik ist nicht nur Setting der Handlung, sondern durchzieht vielmehr das Buch auf jeder Seite.
In ihrem Gesicht waren sechs Prozent Lächeln und dreiundzwanzig Prozent Kummer, drei Prozent Ungeduld und sechsundsiebzig Prozent Sorge. (Dieser Satz ist am Ende mit folgender Fußnote versehen: „kleiner Aufmerksamkeitstest“)
Alina Bronsky: Pi mal Daumen, S. 75
Am Ende bietet sie noch eine sehr elegante Lösung für ein besonderes Rätsel (aber tut Mathematik das nicht eigentlich immer?). Dafür empfehle ich jedoch vorher „Flächenland“ zu lesen.
Zeitlich erstreckt sich die Handlung über ein ganzes Semester und Alina Bronsky hat das Unileben und die akademische Atmosphäre überraschend authentisch eingefangen: Von den Vorlesungen und Seminaren über Professoren, Kommilitonen und Mensa bis hin zu Übungszetteln und Klausuren.
Last but not least möchte ich noch eine der zahlreichen fantastischen Metaphern erwähnen:
Ich fühlte mich, als würde ich Altpapier in eine Tonne stopfen, lauter übergroße Pappen und Kartons. Es schien aussichtslos, also nahm ich die metaphorischen Leerverpackungen wieder heraus, zerriss sie in Stücke, stopfte sie wieder rein, viele weitere hinterher. Es war immer noch eine Menge Papier übrig, denn Mathematik hört bekanntlich nie auf. Man hat auch niemals genug Grundlagen gelernt. (…) Ich musste in diese Tonne springen und alles platt treten, um mehr Platz zu schaffen.
Alina Bronsky: Pi mal Daumen, S. 85
Fazit
Ein cleverer, humorvoller und berührender Roman über eine ganz besondere Freundschaft und die Verwirklichung von Lebensträumen. Gleichzeitig ist „Pi mal Daumen“ eine wahre Liebeserklärung an die Mathematik. Für Mathe-Fans definitiv ein Highlight von der ersten bis zur letzten Seite. Ich konnte ihn jedenfalls nicht aus der Hand legen.
Kostenloses Rezensionsexemplar
Ich habe dieses Buch als kostenloses Rezensionsexemplar vom Kiwiverlag zur Verfügung gestellt bekommen. Dies beeinflusst in keiner Weise meine Meinung.
Bibliografie
Titel: Pi mal Daumen
Autorin: Alina Bronsky
Verlag & Copyright: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 272
Erscheinungstermin: 15. August 2024
Preis: 24 €