Das Buch Ana von Sue Monk Kidd

Ich habe diese Geschichte in meiner Lieblingsbuchhandlung entdeckt. Das Cover zog mich regelrecht in seinen Bann und der Titel schrie danach, von mir beachtet zu werden. Das Buch flüsterte mir zu, ich möge die Klappendeckel aufschlagen und anfangen diese gewagte aber auch sehr besondere Geschichte zu lesen. Seitdem ließ es mich nicht mehr los und so habe ich es kurzerhand beim Bloggerportal angefragt. Dies beeinträchtigt natürlich in keiner Weise meine Bewertung.

Anstatt selbst zu versuchen diesem fantastischen Buch mit einer Rezension gerecht zu werden, könnte ich eigentlich auch direkt auf die Anmerkungen der Verfasserin am Ende des Buches verweisen. Eine bessere Zusammenfassung und Reflexion der Geschichte sowie historischen und religiösen Hintergründe wären mir gar nicht möglich.

Klappentext

Wenn Jesus wirklich eine Frau hatte, dann wäre sie die Frau in der Historie, die am deutlichsten zum Schweigen gebracht wurde und die am dringendsten eine Stimme braucht, um sich Gehör zu verschaffen.

Sue Monk Kidd

Die Autorin bringt mit dieser Aussage den Kern Ihrer Geschichte auf den Punkt, wenngleich dies und die anderen Statements auf dem Buchrücken keinen wirklichen Eindruck davon vermitteln, wovon das Buch genau handelt. Dafür muss man es schon aufschlagen.

Inhaltsangabe

Mein Name ist Ana. Ich war die Frau von Jesus aus Nazareth. So beginnt der lange erwartete neue Roman von Bestsellerautorin Sue Monk Kidd. Es ist die fiktive Lebensgeschichte von Ana, der Gefährtin Jesu. Die Erzählung setzt im Jahr 16 nach Christus ein, im von den Römern besetzten Galiläa. Dort wächst Ana in einer wohlhabenden jüdischen Familie auf. Sie ist ein kluges Mädchen mit rebellischem Geist und messerscharfem Verstand. Ana lernt Lesen und Schreiben, studiert die Thora und beginnt heimlich die Geschichten der vergessenen Frauen der Heiligen Schrift aufzuzeichnen: Eva, Sarah, Rebecca, Rachel und Ruth. Als Ana vierzehn ist, soll sie an einen alten Witwer verheiratet werden. Auf dem Markt wird sie ihm vorgeführt, sie ist entsetzt. Ein junger Mann mit dunklen Locken und sanften Augen erkennt ihre Verzweiflung und hilft Ana. Ihre Begegnung wird alles verändern.
Wie keine andere Autorin versteht es Sue Monk Kidd, Frauen eine Stimme zu geben, die sich dem Rollenverständnis ihrer Zeit widersetzen. »Das Buch Ana« ist eine spannende Geschichte weiblicher Selbstfindung in einer Zeit, in der Frauen Lernen und Schreiben verboten war. Ana folgt ihrer Sehnsucht, sie kämpft für ihre Freiheit, und sie schreibt die Geschichte, die wir alle zu kennen glauben, neu.

Handlung

Die Autorin traut sich an eine gewagte These heran: Was wäre, wenn Jesus verheiratet gewesen wäre?

Doch was im ersten Moment ungeheuerlich erscheint, trifft die eigentliche Handlung des Buches nicht wirklich. Denn zu der Zeit wäre es viel ungewöhnlicher gewesen, wenn Jesus keine Frau gehabt hätte. Gemahlinnen waren nämlich so selbstverständlich, dass sie gar keine Erwähnung wert gewesen wären.

Doch das Buch Ana widmet Jesus Ehefrau sogar ganze 576 Seiten und macht sie zur Protagonistin während Jesus eigentlich nur eine Nebenfigur am Rande der Geschichte darstellt (ich zitiere hier gern aus einem meiner liebsten Weihnachtsfilme „Liebe braucht keine Ferien“): „sollte nicht jede/jeder in ihrem/seinem eigenen Leben die Hauptrolle spielen?“).

Ana berichtet uns aus ihrer Perspektive über ihr Leben. Wie sie aufwächst und entgegen aller Konventionen Lesen und Schreiben lernt. Wie sie es als Einzige als Glück wahrnimmt, der arrangierten Ehe entgangen zu sein. Wie sie in Jesus von Nazareth ihre große Liebe findet, aber auch in der Rolle als Ehefrau neue Wege geht. Wie stetiger Tropfen den Stein höhlt, versucht sie kontinuierlich, das damalige Frauenbild zu überwinden. Unermüdlich kämpft sie mit ihren Schriftrollen gegen die Ungerechtigkeiten jener Zeit und hält die Geschichten jener Frauen für die Nachwelt fest, die ihren Weg kreuzten und deren Schicksale sie berührten. Sie gibt den Frauen jener Zeit eine Stimme.

Natürlich findet sich in der Handlung auch alles, was man in einer Geschichte mit Jesus Christus so erwartet: von Johannes der Täufer über den Verräter Judas bis hin zur Kreuzigung. Aber das sind alles nur Nebenfiguren bzw. Nebenschauplätze.  Es geht weder darum, dass oder ob Jesus der Sohn Gottes sei, noch um Religion an sich. Ana ist und bleibt die Heldin der Geschichte.

Dabei fügt sich die fiktive Handlung so perfekt in die uns überlieferten Geschichten ein, dass man sich fragt, ob es sich nicht wirklich genauso abgespielt haben könnte. Und das fand ich auch das Spannendste an diesem Buch: Dass alles genauso hätte passiert sein können!

Charaktere

Das Buch Ana ist die Geschichte eines starken Mädchens, das zu einer noch stärkeren Frau heranwächst. Schon früh bemerkt sie, dass in ihr eine Kraft schlummert, eine Stimme, die sich erheben will und dass sie vom Leben mehr erwartet als in jener Zeit für Frauen vorgesehen ist. So lernt sie Lesen und Schreiben und beginnt, die Geschichten der Frauen, denen sie begegnet aufzuzeichnen. Ana ist unglaublich authentisch gezeichnet, ihre Handlungen sind nachvollziehbar und ich konnte mich sehr gut mit ihr identifizieren.

Auch wenn die Autorin Jesus nur am Rande in Erscheinung treten lässt, ist er doch fast immer spürbar. Zudem ist er ausgezeichnet recherchiert. Ihn in der Rolle des männlichen Parts einer Liebesgeschichte zu sehen, empfand ich beim Lesen dann aber doch etwas seltsam.

Das Besondere an der Beziehung zwischen Ana und Jesus war für mich, dass beide einander ihren Freiraum lassen. Wie Ana lässt auch Jesus seine Frau ihren eigenen Weg gehen. Und obwohl Ana ihn schmerzlich vermisst, lässt sie Jesus jedes Mal ziehen, wenn Gott ihn zu rufen scheint. Umgekehrt akzeptiert Jesus die Eigenständigkeit Anas; dass sie keine Kinder will oder dass sie jede Gelegenheit nutzt, um zu Lesen, zu Schreiben oder zu Lernen, auch wenn eigentlich kein Geld dafür da ist.

Auch alle weiteren Figuren sind detailverliebt gezeichnet; jede Rolle authentisch angelegt. Angefangen bei ihrer Tante Yaltha, die Ana stetig ermutigt, selbstständig zu denken, ihren eigenen Träumen zu folgen und den für sie vorgezeichneten Weg zu verlassen, über ihre Freundin Tabitha, deren Unbekümmertheit ansteckend ist – zumindest bis ihr das Schicksal in Gestalt männlicher Machtausübung böse mitspielt, bis hin zu ihrer Schwägerin Judith, die den Part der bösen Stiefschwester einnimmt. Obwohl letztere selbst eine Frau ist, hat sie keinerlei Verständnis für Anas freiheitliche Gedanken. Gruselig, aber auch heute noch nicht ungewöhnlich.

Anas Bruder Judas ist ein weiterer interessanter Charakter. Ich meine, man wartet ja die ganze Zeit darauf, dass er Jesus verrät. Und doch kann man es sich bis zum Schluss nicht vorstellen. Soviel sei gesagt: Die Autorin hat die Geschichte nicht umgeschrieben. Sie hat nur die Lücken mit ihrer Fantasie gefüllt.

Sprachstil

Mich hat das Buch von der ersten Seite an gefesselt. Ich wollte unbedingt wissen, wie Anas Geschichte weitergeht und ob und wie sie ihrem unglückseligen Schicksal entfliehen kann. Überhaupt trieben mir die beschriebenen Schicksale und die Ungerechtigkeiten mehr als einmal Tränen und Wut in die Augen.

Was auch nicht jede*r Autor*in schafft: Sue Monk Kidd lässt Bilder in meinem Kopf entstehen, die mich literarisch an die Orte des Geschehens versetzen, bspw. die großartige Bibliothek Alexandria.

Religiöses Zeitgeschehen

Ich habe auch sehr viel über die Zeit gelernt, über jüdische Sitten und Gebräuche, über die Ungerechtigkeiten, aber auch über die Tricks, die die Unterdrückten anzuwenden wussten, um sich dem zumindest ein Stück weit entgegen zu setzen oder ihrem Schicksal ganz zu entfliehen.

Nicht dass ich das Neue Testament je vollständig gelesen hätte (also über die Pflichtlektüre im Konfirmandenunterricht hinaus). Hätte ich dies aber, könnte man sagen, Das Buch Ana gewährt einen anderen Einblick in das Neue Testament.

Aber keine Angst, man braucht keinerlei theologisches Vorwissen. Es wird alles erläutert und erklärt, was man zum Verständnis der Handlung benötigt. Die Religion spielt auch eher eine untergeordnete Rolle, vielmehr geht es ganz allgemein um die damalig herrschenden Verhältnisse.

Dabei wird auch deutlich, wie gut das Buch recherchiert ist. In jedem Fall empfehle ich die Anmerkungen der Autorin am Ende des Buches. Sie gewährt uns damit einen Einblick in ihre Rechercheergebnisse, historische Fakten aber auch Theorien.

Cover

Das Cover ist natürlich ein Traum. Eine Bereicherung für jedes Bücherregal. Nur ein goldener Seitenschnitt hätte es noch vollkommener machen können.

Fazit

Das Buch Ana ist ein fließend und leicht geschriebener Roman über ein doch schwergewichtiges Thema. Es zeigt die damals herrschende Ungerechtigkeit in der Vormachtstellung des männlichen Geschlechts und gibt jenen Frauen ihre Stimme zurück, die ihnen von Vätern, Onkeln, Brüdern und Ehemännern geraubt wurde. Ana hat es geschafft: Ihre Schriftrollen sind im 21. Jahrhundert angekommen.

Und genauso wie Ana ihre Zuhörer, hat die Autorin mit diesem Buch mein Herz tief berührt. Ich habe Ana gern zugehört, egal welcher weiblichen Figur sie gerade eine Stimme schenkte.

Ich kann das Buch wirklich uneingeschränkt empfehlen.

Infos

Titel: Das Buch Ana
Autorin: Sue Monk Kidd
Übersetzung: Judith Schwaab
Verlag und Copyright: btb
Seitenzahl: 576
Erscheinungsdatum: 17. August 2020

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