Dieses Buch hat mich neugierig gemacht, da ich die Thematik wissenschaftlicher Ethik, insbesondere in der Historie, spannend finde. Dass es hier um einen wahren Menschen geht, habe ich anfangs überhaupt nicht gemerkt. Vielleicht weil immer nur von einem Hermann die Rede war.
Klappentext
Nach dem Ersten Weltkrieg bricht das Zeitalter der Utopien an.
1920 zieht es den jungen Hermann Oberth von Siebenbürgen nach Göttingen, um Physik zu studieren – die spannendste Wissenschaft der Zeit. Hermann will den Menschheitstraum von der Mondrakete verwirklichen. Als der Durchbruch nah ist, weisen seine Professoren ihn ab.
Seine lebenslustige Frau Tilla versucht, einen gemeinsamen Alltag als Familie zu ermöglichen, als doch jemand an Hermanns Forschung glaubt: Wernher von Braun, Mitglied der SS. Doch statt der Mondrakete soll Hermann die V2 mitentwickeln, eine »Vergeltungswaffe« für die Nazis. Seine Kinder Ilse und Julius verliert er an den Krieg. Und so stellt sich ihm und auch Tilla mit voller Wucht die Frage nach der eigenen Verantwortung für die Geschichte.
Aufbau
Raffiniert fand ich die Einteilung der Kapitel in einen Countdown, der von 10 runter zählt.
Allerdings habe ich die ersten drei auch gebraucht, um überhaupt in diese Geschichte reinzukommen. Bei mir wollte sich anfangs einfach kein „Roman-Gefühl“ einstellen. Dabei habe ich mittlerer Weile schon einige Bücher gelesen, die das Leben einer realen Person aufgreifen und Fakten und Fiktion zu einer „Romanografie“ vereinen.
Außerdem ist der Anfang recht schonungslos, insbesondere was die Darstellung von Kriegsgefangenen bzw. -verletzten angeht (Ich sage nur „der Kieferlose“…). Dazu kommt ein plötzlicher Zeitsprung, der sich nicht wirklich einfügen will.
Trotzdem kann ich empfehlen weiterzulesen und diesen Start als Vorbereitung auf die eigentliche Handlung hinzunehmen, denn dann wird man mit einem wirklich interessanten Charakter und seiner komplizierten Karriere belohnt.
Charaktere
Zugegeben, unser Protagonist Hermann Oberth ist nicht sonderlich sympathisch, aber man entwickelt doch ein gewisses Mitgefühl – so wie für einen alten Kauz. Trotz oder gerade wegen seiner mathematischen Hochbegabung „scheitert“ er in gewisser Hinsicht immer wieder. Als Pionier der Raketenforschung hatte er damit zu kämpfen, dass niemand seine Dissertation annehmen wollte – einfach, weil seine Forschung in kein Fachgebiet zu passen schien. Außerdem war er Physiker, kein Ingenieur.
Da es ihm trotz seiner Fähigkeiten nicht gelang, Forschungsgelder einzutreiben, verdingte er sich gezwungener Maßen als Lehrer, nutzte aber jeden noch so kleinen Hoffnungsschimmer weiter an seiner Rakete zu arbeiten.
Doch erst als es so aussah, als würde er seine Fähigkeiten in den Dienst einer anderen Nation stellen, machte man ihm ein Stellenangebot. Allerdings nur um ihn ruhig zu stellen. Dabei war er Deutschland treu ergeben, obwohl sie ihn als Ausländer behandelten, weil Siebenbürgen nach dem ersten Weltkrieg an Rumänien fiel. Von außen betrachtet oder in den Augen seiner Frau, ist allerdings nicht nachvollziehbar, warum er an Deutschland festhielt.
Der Roman dreht sich also um eine eigentümlich anmutende Hauptfigur, die eigentlich nur eines will: Forschen, um eines Tages eine Rakete zum Mond zu schicken. Daher dachte ich, Hermann‘s ethisch-moralischer Konflikt bestünde darin, dass seine Forschung für militärische Zwecke missbraucht werden könnte. Oder er sich dem Militär andienen müsste, um überhaupt weiter forschen zu können. Stattdessen ist er fest davon überzeugt, seine Rakete könne Frieden bringen, da doch sicher niemand ein Land mit einer solch mächtigen Waffe angreifen würde. Schon als Jugendlicher wollte er auf diese Weise seinen Bruder von der Front zurückholen. Im zweiten Weltkrieg dient er sich daher nur zu gern Hitler an, ihm eine Raketenwaffe zu bauen.
Ab und an kommt der reine Wissenschaftler durch, der sich einfach nur am technischen Fortschritt erfreuen kann.
Die Figur seiner Frau Tilla finde ich gut getroffen, jedenfalls wirkt sie auf mich recht authentisch. Das Buch behandelt auch immer wieder – wenn auch oberflächlich – die Schwierigkeiten, mit denen sie an der Seite eines solchen Charakters zu kämpfen hat. Tilla ist ein Gegenpart zu Hermann, dadurch wird etwas Spannung erzeugt und aufgelockert.
Was ist Fakt, was Fiktion?
Ich finde es schade, dass man nicht erfährt, wieviel Fiktion sich unter die Fakten gemischt hat.
Gezeichnet wird jedenfalls ein Wissenschaftler, der leider so verrannt in seinen Wunsch ist, eine Rakete zu bauen, dass er in Fanatismus abdriftet. Gepaart mit seiner Arroganz bzgl. der eigenen Fähigkeiten bei gleichzeitiger Scheu vor Publikum zu sprechen, konnte eine solche Karriere nur scheitern. Und das ist das Kuriose daran: Während Hermann eine Niederlage nach der anderen erleidet, wird er doch als Urvater der Raketenforschung angesehen.
Sein ehemaliger Schüler Wernher von Braun hingegen legte eine steile Karriere hin. Hier wäre es interessant zu erfahren, ob er wirklich so geschickt im Reden schwingen und „netzwerken“ war.
Was der Knappheit des Buches zum Opfer viel…
Als Leser*in ließ sich die wirkliche Bedeutung seiner Theorien für die Wissenschaft nicht ansatzweise nachvollziehen. Ich äußere so etwas nur selten, aber hier hätten deutlich mehr Seiten eingesetzt werden sollen, um die Thematik aufzuarbeiten.
So wird Vieles vom Autor nur oberflächlich angerissen. Wer wirklich verstehen will, muss viel nachrecherchieren.
Aber es wird deutlich spürbar, welchen Sog Forschung und wissenschaftliche Neugier ausüben können, dem man allein nicht mehr entkommt.
Der Sprachstil…
…ist distanziert, fast kühl, in jedem Fall aber schnörkellos. Die Fragen, mit denen sich das Buch beschäftigt, sind heute so aktuell wie damals: Darf man sich um des Forschens willen prostituieren? Welche Grenzen zieht man als Wissenschaftler*in? Was bedeutet wissenschaftliche Verantwortung?
Hermann Oberth in Göttingen
Für mich war natürlich besonders die Episode interessant, als Hermann in Göttingen studierte. Wir haben bei uns in der Fakultät eine kleine historische Sammlung und ich finde es immer spannend, die Gegenstände zu sehen, die schon Gauss oder Lichtenberg in Händen hielten. Aber am Schauplatz eines Romans zu leben und zu arbeiten, wenngleich in einer anderen Zeit, ist schon seltsam.
Fazit
Der Roman beginnt mit einem hochbegabten Kind, das für die Geschichten Jule Vernes lebt und eines Tages selbst eine Rakete zum Mond schießen will. Was jedoch bleibt, ist die kurze Bekanntschaft mit dem komplexen Charakter eines Wissenschaftlers, der trotz gescheitert anmutenden Karriere im Rückblick als Urvater der Raketenforschung angesehen wird.
Alles in allem ist es kein Kehlmann, aber trotzdem eine lesenswerte Romanografie, insbesondere für Leser*innen mit (natur)wissenschaftlichem Bezug oder Interesse.
Kostenloses Leserundenexemplar
Das Buch wurde mir im Rahmen einer Leserunde von Lovelybooks.de kostenlos zur Verfügung gestellt. Dies beeinflusst in keiner Weise meine Meinung.
Infos
Titel: Die Erfindung des Countdown
Autor: Daniel Mellem
Verlag und Copyright: DTV
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 15. September 2020
Preis: 23 € (Hardcover)
Ein Gedanke zu „Die Erfindung des Countdowns von Daniel Mellem“