Der Roman „Echtzeitalter“ von Tonio Schachinger hat letztes Jahr den deutschen Buchpreis bekommen, was mich persönlich ja erstmal abschreckt, da ich bisher fast immer enttäuscht wurde. Doch hier soll das Computerspiel Age of Empires eine Rolle spielen und das hat mich neugierig gemacht.
Klappentext
Ein elitäres Wiener Internat, untergebracht in der ehemaligen Sommerresidenz der Habsburger, der Klassenlehrer ein antiquierter und despotischer Mann. Was lässt sich hier fürs Leben lernen? Till Kokorda kann weder mit dem Kanon noch mit dem snobistischen Umfeld viel anfangen. Seine Leidenschaft sind Computerspiele, konkret: das Echtzeit-Strategiespiel Age of Empires 2. Ohne dass jemand aus seiner Umgebung davon wüsste, ist er mit fünfzehn eine Online-Berühmtheit, der jüngste Top-10-Spieler der Welt. Nur: Wie real ist so ein Glück?
Meine Meinung
Im Prinzip bietet die Geschichte eine Inneneinsicht in ein wienerisches Ganztagsgymnasium. Und auch, wenn ich aus Norddeutschland komme und meine Schulzeit schon 30 Jahre zurückliegt, habe ich sie im Marianum durchaus wieder erkannt, insbesondere den Dolinar. Daher konnte mir die Geschichte vielleicht auch einfach nichts geben, weil ich selbst ähnliches erlebt habe. Trotzdem kann ich nicht ganz glauben, dass solche Lehrpersonen in der heutigen Zeit wirklich noch existieren. Allerdings war ich auch überrascht, zu lesen, dass Jugendliche immer noch Age of Empires 2 spielen. Die Gaming-Passagen sollen vermutlich einen Gegenpol zum traditionellen Schulalltag darstellen, doch das wäre vielleicht mit Fortnite etwas zeitgemäßer geglückt. Ich hatte natürlich gehofft, etwas in alten Jugenderinnerungen schwelgen zu können und erwartet, dass dieser Plot eine viel größere Rolle in der Handlung einnimmt. Aber ich vermute auch, dass Lesende, die diese Szene nicht kennen, mit den Passagen vermutlich gar nichts anfangen können.
Es geht also um eine relativ normale Schulzeit mit typischen Coming of Age Problemen: Eltern, fiese Pauker (ich tat mich tatsächlich schwer damit, mir diese Schule in der heutigen Zeit vorzustellen, wenn von ORF statt Netflix die Rede ist und die Gesamtszenerie irgendwie antiquiert wirkt), gemeine Klassenkamerad*innen, die erste Liebe sowie Alkohol, Zigaretten und Drogen.
Und vielleicht lag es am Erzählstil, aber Tills Figur blieb für mich immer auf Distanz. Gleichzeitig erscheint der Dolinar als heimlicher Protagonist, denn aus seinem Verhalten und seinen Äußerungen lässt sich ein viel komplexerer – wenngleich heute überhaupt nicht mehr tragbarer – Charakter herauslesen. Die restlichen Personen dienen eigentlich nur der Abrundung der Geschichte um Till und den Dolinar.
Da der Dolinar Literatur unterrichtet, spielten natürlich auch einige Bücher eine Rolle. Leider kannte ich kaum eins davon. Außerdem hatte ich das Gefühl, die im Text steckende Gesellschaftskritik, versteht man vielleicht nur als Österreicher*in. Für die Begriffe und Redewendungen ist das definitiv hilfreich. Aber während mich das normalerweise dazu verleitet, neben der Lektüre zu googeln, hatte ich dieses Bedürfnis bei diesem Buch nicht, sondern habe einfach darüber hinweggelesen.
Der Schreibstil liest sich flüssig und auch wenn einige Passagen etwas langatmig waren, gibt es humorvolle und auch interessante Abschnitte, über die es sich gut im Lesekreis diskutieren lässt.
Man könnte aber auch sagen, eine ELO von 1600 ist circa so, wie auf Lehramt studiert zu haben. Es bedeutet, dass man andere mit seinem Wissen beeindrucken kann und nicht lügt, wenn man sagt, dass man sich auskennt, aber sobald man mit jemandem redet, der wirklich vom Fach ist, einem echten Germanisten, einer echten Historikerin, einem 2K+Player, erscheint alles, was man zu wissen glaubte unzureichend, veraltet und kindisch.
Tonio Schachinger: Echtzeitalter, S. 43
„Erziehung“ sagt der Dolinar gerne, „beginnt, wenn ein Baby weder Hunger noch Durst noch Scheiße in den Windeln hat und trotzdem schreit.“
Tonio Schachinger: Echtzeitalter, S. 143
Fazit
„Echtzeitalter“ war so ein Buch, das man lesen kann, aber auch nichts verpasst, wenn man es nicht liest. Ich habe mich einfach nur die ganze Zeit gefragt: „Kommt da noch was?“
ACHTUNG SPOILER: Nein…
Bibliografie
Titel: Echtzeitalter
Autor: Tonio Schachinger
Verlag & Copyright: Rowohlt
Seitenzahl: 368
Erscheinungstermin: 14. März 2023
Preis: 24 € (Hardcover mit Schutzumschlag)