Dieser Roman war ein reiner Coverkauf. Ich habe ihn in einer kleinen Buchhandlung entdeckt und der Klappentext klang nach einer spannenden Young Adult Geschichte mit einem Setting, wie ich es noch nicht gelesen habe. Nach der Lektüre kann ich sagen: es stimmt!
Klappentext
Die 18-jährige Daunis Fontaine hat nie wirklich dazugehört, weder in ihrer Heimatstadt noch in der nahe gelegenen Ojibwe-Reservation. Denn sie ist halb weiß, halb Native American. Daunis träumt von einem Neustart am College, wo sie Medizin studieren möchte. Doch als sie sich plötzlich um ihre Mutter kümmern muss, beschließt Daunis, die eigenen Pläne vorerst auf Eis zu legen. Der einzige Lichtblick ist Jamie, der neue und sehr charmante Spieler im Eishockeyteam von Daunis‘ Bruder Levi. Daunis genießt seine Aufmerksamkeit und hat sich gerade in ihrem Leben eingerichtet, als sie Zeugin eines schrecklichen Mordes wird. Damit nicht genug, wird sie vom FBI rekrutiert, um undercover zu ermitteln. Widerstrebend willigt Daunis ein und erfährt so Dinge, die ihre Welt vollkommen auseinanderreißen …
Meine Meinung
Dieses Buch lässt sich nur schwer einer Kategorie zuordnen, denn was als Teenie-Lovestory beginnt wird bald zum spannenden Thriller. Gleichzeitig ist es ein Coming of Age Roman mit Themen wie Identitätssuche oder Drogenkriminalität. Und man erfährt ganz viel über die indigene Bevölkerung im Norden Michigans. Die Autorin webt nämlich gekonnt den Alltag in der Reservation mit ein. Ich fand es sehr interessant, zu erfahren, welche Gesetze und Machtverhältnisse dort herrschen. Und obwohl ich mit Spiritualität normalerweise gar nichts anfangen kann, fand ich die Rituale, Gebräuche und Ansichten total einleuchtend! Bspw. wie sie mit Menstruation umgehen: grandios.
Sprachstil
Allerdings braucht man etwas, um reinzukommen. Angeline Boulley lässt viele Worte, Ausdrücke und Redewendungen der Ojibwe einfließen, was einerseits für eine sehr authentische Atmosphäre sorgt, andererseits das Lesen aber auch etwas sperrig macht.
An einem Tisch ein Stück weiter fragt Seeeney Auntie, ob sie mitkommen wolle, um giizhik aniibiishan, Lebensbaumblätter, auf der Insel zu suchen. Eine Gruppe Nish kwewag wird dieses Wochenende hinfahren. „Gaawiin.“ Auntie schüttelt den Kopf.
Angeline Boulley: Firekeeper’s Daughter, S. 156
Charaktere
Gleiches gilt für die vielen Charaktere, mit ihren für meine Augen und Ohren außergewöhnlichen Namen. Ich brauche ziemlich lange, bis ich durch die Familien- und Stammesbeziehungen durchsteige.
Aber die Figuren sind sehr detailverliebt und ausgesprochen lebensecht gezeichnet. Ich finde es toll, dass hier weniger Wert auf Äußerlichkeiten gelegt wird, das findet man in Jugendbüchern ja eher selten. Außerdem gefällt mir der indigene Blickwinkel; aus der Perspektive habe ich noch keinen Roman gelesen.
Durch den Ich-Stil fällt es mir leicht, mich mit der Protagonistin Daunis zu solidarisieren und ihre innere Zerrissenheit zwischen den Kulturen kann ich sofort spüren. Es muss wirklich schwer sein, nirgendwo so richtig dazu zu gehören. Aber vielleicht hat es mir auch deshalb so viel Spaß gemacht, sie auf dem letzten Stück zum Erwachsenwerden zu begleiten und zu sehen, zu was für einer Frau sie sich entwickelt. Ihr Humor ist das I-Tüpfelchen: Bspw. sieht sie sich in ihrer Rolle als FBI-Informantin als Secret Squirrel, also wie die Zeichentrickfigur. Das hat mich jedes Mal zum Schmunzeln gebracht. Und ich liebe ihre wissenschaftliche Herangehensweise.
Die Figur ihrer Mutter fand ich auch sehr interessant, von ihrer Geschichte bzw. aus ihrem Blickwinkel hätte ich gern noch mehr erfahren.
Eishockey-Settings ziehen mich immer wahnsinnig an, keine Ahnung warum, denn ich kann ja noch nicht mal Schlittschuhlaufen… Jedenfalls ist die Gruppe um ihren Bruder sehr interessant. Die Dynamik einer Mannschaft, was die Teammitglieder antreibt, aber auch welche Moralvorstellungen sie haben usw.
Beim männlichen Protagonisten Jamie muss ich immer an 21 Jump Street denken (junge Cops ermitteln an der Highschool, eine von Jonny Depps ersten Rollen).
Auf die restlichen Figuren gehe ich nicht näher ein, aber sie alle tragen zu dem runden Gesamtbild bei. Und auch wenn sie nicht so ausführlich dargestellt werden, kann man den Charakter jeder einzelnen Person erfassen.
Selbst die Verstorbenen werden durch Rückblicke und Erinnerungen wieder zum Leben erweckt; das fand ich wirklich schön.
Nehmt euch Zeit zum Lesen
Der Spannungsbogen entwickelt sich sehr langsam, nimmt im letzten Drittel aber rasant zu (ich konnte gar nicht mehr aufhören zu lesen). Daher mag das Buch Anfangs etwas langatmig erscheinen, aber wenn man darüber nachdenkt, hätte man wirklich nichts kürzen können. Die Länge ist einfach notwendig, um ein stimmiges Bild von den Charakteren, ihrer Kultur, den Beziehungen untereinander sowie der vorherrschenden Probleme zu zeichnen. Also lasst euch darauf ein und setzt nicht darauf, es durchzusuchten. Genießt es lieber.
Ich bin sogar fast der Meinung, dass ich die Geschichte noch einmal lesen muss, denn dieses Buch enthält so viel Wissenswertes (und zwar nicht nur Fakten, sondern auch Beschreibungen, über die ich noch nachdenke), dass man gar nicht alles beim ersten Mal erfassen kann.
Happy End?
Was mir auch sehr imponiert hat, war das kluge Ende. Ein romantisierter Abschluss hätte bei der Thematik einfach nicht gepasst und trotzdem schafft es die Autorin einen Schluss zu kreieren, der mich mit einem guten Gefühl zurücklässt.
Triggerwarnung
Auch wenn sie nicht explizit beschrieben werden: Drogen und (sexuelle) Gewalt spielen eine nicht zu vernachlässigende Rolle in dem Roman.
Anhang
Es gibt einen umfangreichen Anhang, bestehend aus einem äußerst hilfreichen Glossar, weiteren Erläuterungen (bspw. wie ein Clan funktioniert oder was es mit dem „Mond“ auf sich hat) und einer historischen Einordnung der Geschichte, die super interessant war.
Die Geschichtslektion kann man sicher auch gut zuerst lesen. Glossar und Erklärungen habe ich immer dann zu Rate gezogen, wenn ich in der Handlung über einen Begriff gestolpert bin.
Einziger Kritikpunkt: Die Übersetzung
Leider gibt es einige kleinere sprachliche Mängel, die meiner Vermutung nach etwas mit der Übersetzung zu tun. Ab und an fehlen Artikel oder Verben, Sätze sind umständlich formuliert und es gibt Doppelungen. Hier hätte ich mir gewünscht, dass das Lektorat sowas vor Veröffentlichung ausmerzt.
Fazit
Ein unglaublich intelligent geschriebenes Jugendbuch mit einer starken Protagonistin und einem ebenso interessanten Setting. Es hat mir wirklich großen Spaß gemacht (wobei Spaß irgendwie das falsche Wort ist), gemeinsam mit Daunis hinter all die Geheimnisse und Lügen zu kommen, die sich in der Geschichte verbergen und die Wahrheit aufzudecken. Ich kann die Lektüre nur jedem wärmstens empfehlen, das gilt auch für Erwachsene. Für mich war es ein absolutes Jahreshighlight und ich bin fast ein bisschen traurig, dass ich den Tribe schon verlassen muss.
Bibliografie
Titel: Firekeeper’s Daughter
Autorin: Angeline Boulley
Übersetzung: Claudia Max
Verlag und Copyright: cbj
Seitenzahl: 560
Erscheinungsdatum: 01. März 2022
Preis: 20 € (Hardcover)