Mein Mann hat mir dieses Buch zu Weihnachten geschenkt. Und auch wenn ich Angela Merkel als Bundeskanzlerin mochte, hätte ich nie gedacht, dass mich ihre Autobiografie so fesseln würde und dass ich den ganzen restlichen Weihnachtsurlaub fast nichts anderes mehr machen würde, als mit ihr die letzten 70 Jahre zu rekapitulieren…
Klappentext
16 Jahre trug Angela Merkel die Regierungsverantwortung für Deutschland, führte das Land durch zahlreiche Krisen und prägte mit ihrem Handeln und ihrer Haltung die deutsche und internationale Politik und Gesellschaft. Doch natürlich wurde Angela Merkel nicht als Kanzlerin geboren. In ihren gemeinsam mit ihrer langjährigen politischen Beraterin Beate Baumann verfassten Erinnerungen schaut sie zurück auf ihr Leben in zwei deutschen Staaten – 35 Jahre in der DDR, 35 Jahre im wiedervereinigten Deutschland. Persönlich wie nie zuvor erzählt sie von ihrer Kindheit, Jugend und ihrem Studium in der DDR und dem dramatischen Jahr 1989, in dem die Mauer fiel und ihr politisches Leben begann. Sie lässt uns teilhaben an ihren Treffen und Gesprächen mit den Mächtigsten der Welt und erhellt anhand bedeutender nationaler, europäischer und internationaler Wendepunkte anschaulich und präzise, wie Entscheidungen getroffen wurden, die unsere Zeit prägen. Ihr Buch bietet einen einzigartigen Einblick in das Innere der Macht – und ist ein entschiedenes Plädoyer für die Freiheit.
Meine Meinung
Als ich das Buch zum ersten Mal in Händen hielt und auf der Rückseite statt eines Klappentextes ein Foto der Kanzlerin – in aufrechter Haltung, die Finger zur Raute geformt – vorfand, war es fast so, als könnte ich ihre Worte hören: „Sie kennen mich“. Das heißt jedoch nicht, dass ihre Autobiografie nichts Neues enthält, wie viele Kritiken bemängeln. Ich habe sogar sehr viel Neues erfahren; nur eben auf die gleiche ruhige, eher sachliche und methodische Art und Weise, die ich schon an ihr als Politikerin geschätzt habe. Unerwartet kamen für mich die emotionalen Momente, an denen uns die Autorin teilhaben lässt, wie bspw. ihre echte Freude am Fußballsommermärchen 2006 oder den Gewinn der Weltmeisterschaft 2014. Da kamen schon ein paar Sheldon Vibes (Big Bang Theorie) auf, als ich las, dass viele überrascht waren, wie sehr sie sich für Fußball begeistern kann.
Anfangs dachte ich noch, dieses Buch lässt sich deswegen so gut lesen, weil es so wenig von der Persönlichkeit überlagert wird – und ich kann mir tatsächlich keine andere Person in der Politik vorstellen, die mir so unprätentiös einen Überblick über die letzten 70 Jahre geben könnte. Aber dann erkannte ich, dass es vermutlich doch mit der Person Angela Merkel, ihrer fast schon stoischen Art, vielleicht auch ihrer Fachkultur als Naturwissenschaftlerin zu tun hat, dass wir uns nicht durch 700 Seiten narzisstische Selbstbeweihräucherung lesen müssen. „Sie kennen mich“ eben. Natürlich merkt man auch bei ihr, dass sie von sich überzeugt ist. Sonst würde man wohl kaum eine Autobiografie schreiben. Gleichzeitig scheint sie sehr mit sich selbst im Reinen zu sein. Ich glaube wirklich, dass sie uns mit diesem Buch einen Einblick hinter die Kulissen der jüngsten (Politik-)Geschichte unseres Landes geben möchte, in dem sie versucht, uns zu erklären oder ein Gefühl dafür zu geben, wie sie zu der Bundeskanzlerin geworden ist, die sie war und was ihre Gedanken und ihr Handeln beeinflusste.
Natürlich gibt es auch ein, zwei Punkte, wo ich mir mehr Reflexion oder Erläuterung gewünscht hätte, aber auf den zweiten Blick muss ich mir eingestehen, dass es dazu dann auch meistens gar nicht mehr zu sagen gegeben hätte…
Was dieses Buch außerdem noch so angenehm zu lesen macht, ist, wie respektvoll sie von anderen – auch politischen Gegnern – spricht. Statt alles und jede*n zu kritisieren oder gar vorzuführen, beschränkt sie sich darauf zu schildern, was sie in bestimmten Situationen dachte. Dabei half sicherlich auch, dass ihre langjährige Beraterin Beate Baumann als Co-Autorin fungierte.
Und so hatte mich die Altkanzlerin bereits nach den ersten Zeilen, denn nie hätte ich es für möglich gehalten, wie humorvoll, fesselnd und teilweise sogar bewegend Angela Merkel schreiben kann. Ich habe selten auf so unterhaltsame Weise so viel über deutsche (Politik-)Geschichte gelernt. Das braucht natürlich Zeit für die Lektüre. Und Interesse an der Thematik. Und ein bisschen Sympathie für die Autorin kann auch nicht schaden.
Eingeteilt ist das Buch in drei Abschnitte: Das Aufwachsen und ihre wissenschaftliche Karriere in der DDR, ihr politischer Aufstieg und ihre Zeit als Kanzlerin. Hinzu kommen zwei Fotostrecken, die das Buch und die letzten 70 Jahre endgültig zum Leben erwecken.
Im Anhang gibt es neben dem Abkürzungsverzeichnis und Bildnachweis auch ein Personenregister, was ich sehr hilfreich finde, wenn ich künftig nochmal etwas nachschlagen möchte. Denn ich kann es mir wirklich gut vorstellen, dieses Buch immer mal wieder zur Hand zu nehmen.
Insgesamt hat mich die Recherchearbeit für dieses Buch beeindruckt. Es muss unglaublich viel Zeit und Geduld gekostet haben, Berichte, Notizen, Terminkalender und Gesprächsteilnehmende zusammenzutragen und mit den eigenen Erinnerungen abzugleichen. Aber so entstand auch ein unfassbar gelungener Einblick in den vielfältigen Alltag einer Bundeskanzlerin. Und nebenbei habe ich auch viel über unser Politiksystem gelernt.
Besonders spannend fand ich die Übersicht über die festen Termine, die man als Bundeskanzlerin (und natürlich auch Kanzler) hat. Die Aufgabenfülle und Termindichte dieses Amtes haben mich regelrecht erschlagen. Viel Schlaf darf man da nicht brauchen. Auch die psychische Belastung muss enorm sein. Insbesondere in den Kapiteln über die verschiedenen Krisen während ihrer Kanzlerschaft wird deutlich (und wieder bin ich beeindruckt), wie viel Verantwortung auf ihren Schultern lag und ich konnte jeden einzelnen ihrer Entscheidungskonflikte nachfühlen.
Imponiert hat mir außerdem, in wie viele Themenbereiche und Sachverhalte sich eine Bundeskanzlerin (und natürlich auch ein Bundeskanzler) einarbeiten muss. Und auch hier spürt man jene Neugier einer Physikerin, die sämtliche Politikressorts durchdringen will: von Gesundheit und Klima, über (Volks-)Wirtschaft bis hin zu internationalen Beziehungen. Dabei bedarf es nicht nur für letztere exzellentes Verhandlungsgeschick und außergewöhnliche diplomatischen Fähigkeiten. Ich meine, wie stark muss man sich im Griff haben, um mit jemandem wie Putin einen Deal auszuhandeln?
Als letztes spannendes Detail zeigt sie im Buch auch noch auf, wie Medien mit einzelnen Bildern oder aus dem Zusammenhang gerissenen Sätzen die Wahrheit verzerren können.
Wenn man den Umfang nicht scheut, eignet sich diese Autobiografie übrigens auch ausgezeichnet für einen Lesekreis. Ich habe meinem Mann immer wieder Passagen aus dem Buch vorgelesen und dann mit ihm über das entsprechende Thema diskutiert.
Fazit
Angela Merkel ist als ostdeutsche Pfarrerstochter in einer Diktatur aufgewachsen und wurde später Kanzlerin eines Wiedervereinigten Deutschlands. „Freiheit“ ist eine von ihrer Biografie inspirierte Reise durch die politische Vergangenheit Deutschlands der letzten 70 Jahre. Und wenn man es mit der gebührenden Muße liest, wird man erkennen, dass es bei aller Sachlichkeit auch ein sehr persönliches Buch ist. Vor allem aber wird deutlich, wie sehr ihr Deutschland und dessen Freiheit am Herzen liegt.
Wenn ich das Buch, dessen Inhalt und Protagonistin mit einem Wort beschreiben müsste, wäre das „beeindruckend“.
Ich kann es daher allen Politik- und Geschichtsinteressierten nur wärmstens empfehlen.
Und um es mit Merkels Worten zu sagen: Sie schaffen das. Es sind ja nur 700 Seiten.
Bibliografie

Titel: Freiheit
Autorinnen: Angela Merkel und Beate Baumann
Verlag & Copyright: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 736
Erscheinungstermin: 26.11.2024
Preis: 42 € (Hardcover)