Sprich mit mir von T.C. Boyle

Ich kann nicht gerade behaupten, ein mega Affen-Fan zu sein. Als kleines Kind war ich mal mit meinen Eltern im Affenberg Salem und da hat mir ein Affe die Popcorntüte aus der Hand gerissen. Trotz dieses (traumatischen) Erlebnisses faszinieren mich diese Tiere und das nicht erst seit Cheetah, Herrn Nilsson oder dem Filmklassiker „Der Planet der Affen“.

Doch ziemlich genau hier setzt „Sprich mit mir“ von T.C. Boyle an. Die Dreiecksgeschichte um einen Psychologieprofessor, sein Forschungsprojekt – den Schimpansen Sam – und der studentischen Hilfskraft Aimee, hörte sich spannend, interessant und herzzerreißend zugleich an. Das wollte ich unbedingt lesen! Und so viel sei schon gesagt: Es hat sich gelohnt, das Buch ist bereits jetzt eins meiner Jahreshighlight 2021.

Doch worum geht’s

Sam, der zweijährige Schimpanse, den Professor Schemerhorn in eine TV-Show bringt, kann in der Gebärdensprache nicht nur einen Cheeseburger bestellen, sondern auch seinen Namen sagen. Wie ein Kind wächst der Affe umsorgt von Wissenschaftlern in Schemerhorns Pflegefamilie auf. Als die schüchterne Aimee dazu stößt, entspinnt sich eine einzigartige Beziehung: Sam erwidert nicht nur ihre Gefühle, er entwickelt sich regelrecht zu einem Individuum. Als jedoch die Vision Schemerhorns, der an das Menschliche im Tier glaubt, keine Schule macht, wird Sam für Tierexperimente von einer anderen Universität beschlagnahmt. Aimee ist am Boden zerstört und fasst einen verrückten Plan, um ihren engsten Freund zu retten. In „Sprich mit mir“ erzählt T.C. Boyle ebenso komisch wie mitfühlend die aufsehenerregende Geschichte einer verpassten Chance.

T.C. Boyle: Sprich mit mir (Klappentex)

Sprachstil

Erzählt wird uns die Geschichte aus drei Perspektiven: Aus Sicht des Professors Guy Schemerhorn, der Studentin Aimee und des Affen Sam. Normalerweise mag ich es nicht, wenn Tiere in Büchern vermenschlicht eine Stimme bekommen, aber T.C. Boyle greift zu einem ganz besonderen Stilmittel: Er verknüpft die Perspektive des Schimpansen mit seiner Gebärdensprache und verleiht dem Ganzen auf diese Art eine wissenschaftliche Note. Außerdem hält er die Passagen kurz, aber sehr intensiv – und mehr als einmal herzzerreißend.

Hinzu kommt ein ansonsten sehr flüssiger Sprachstil.

Meine Meinung zur Handlung und zu den Charakteren

Der Plot hat mir richtig gut gefallen. Der Spannungsbogen ist gut gesetzt und der zeitliche Überlapp verschiedener Perspektiven bringt Abwechslung. Außerdem habe wirklich viel über Schimpansen und Sprachforschung gelernt. Die Geschichte wirkt authentisch und hat ein sehr passendes Ende. Dabei habe ich mich immer gefragt, wie der Autor die vertrackte Situation auflösen will.

Als Leser:in finden wir uns bald in einem komplexen Beziehungsgeflecht wieder, zwischen einer Frau bzw. Studentin und einem Mann bzw. Professor sowie deren Verhältnis zu ihrem lebenden Forschungsprojekt und gleichzeitig tierischen Familienmitglied. Obendrauf kommt dann noch ein Protegé, dem alle auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein scheinen.

Die Figuren, die der Autor in diesem Buch erschuf, gefielen mir ungeheuer gut. Ich arbeite ja selbst im wissenschaftlichen Bereich und kann mir die Charaktere so richtig gut vorstellen.

Aimee kommt mit ihrem Psychologiestudium nicht so richtig voran. Die Arbeit mit Sam beginnt als Teilzeitjob, verwandelt sich jedoch in kürzester Zeit zum Mittelpunkt ihres Lebens. Sie ist eine mutige und prinzipientreue Protagonistin, die sich leider in den Falschen verliebt.

Dabei ist der Professor kein schlechter Mensch. Aimee und er haben einfach vollkommen verschiedene Auffassungen darüber, was richtig und was falsch ist.

Während Aimee das Wohl von Sam in den Vordergrund stellt – koste es was es wolle – denkt Guy an die langfristigen Konsequenzen, insbesondere auch für sich und seine Reputation. Dabei kann man ihm seine innere Zerrissenheit Liebe, Loyalität und Karriere direkt nachempfinden.

Besonders spannend fand ich dabei, dass durch Sam – oder besser gesagt den Umgang mit ihm – alle menschlichen Figuren dazu gezwungen werden, ihr wahres Gesicht zu zeigen.

Der eigentliche Hauptdarsteller des Buches ist fantastisch. Sam kennt keine Artgenossen, er kleidet sich wie ein Mensch, er isst und trinkt wie ein Mensch, er geht auf die Toilette wie ein Mensch und er kommuniziert. Der Autor hat es für mich wirklich geschafft, sein Wesen einzufangen: Ein intelligentes Wesen, mehr hyperaktives Kind als Affe und damit auch der Verzweiflung und dem Dilemma ausgesetzt, Konsequenzen nicht erfassen zu können. T.C. Boyle ließ mich regelrecht in seine Gedanken- und Gefühlswelt eintauchen:

Aimee liebt er, den großen Mann hasst er. Beim Lesen stellt sich die Frage: Ist Sam zu all dem wirklich fähig oder läuft es doch nur auf klassische Konditionierung hinaus?

Eine Geschichte, die nachdenklich stimmt

Zwangsläufig stellt sich bei der Lektüre die Frage nach der eigenen Position zum Thema Forschung versus Tierschutz. Angesichts der derzeit wütenden weltweiten Covid-19 Pandemie, deren einziger Ausweg ein funktionierender Impfstoff zu sein scheint, stellt das Buch meine ethischen Grundsätze ganz schön auf die Probe. Ich hatte gerade meine erste Impfdosis und war überglücklich darüber. Doch mache ich mir nichts vor: Der Impfstoff wurde nach anfänglichen Tests an Mäusen und Ratten auch an Rhesusaffen getestet…

Interessant finde ich den Aspekt der Gefangenschaft: denn wirklich frei ist Sam natürlich auch bei Aimee nicht. Dabei wird man selbst von dem Dilemma mitgerissen: Denn egal wie menschlich er aufgezogen wurde, er bleibt ein wildes Tier und damit nicht nur unberechen- und unkontrollierbar sondern durch seine übermenschliche Kraft auch potenziell gefährlich. Beim Lesen breitet sich auch bei mir eine Art Verzweiflung aus, weil es einfach keine Lösung für das Problem zu geben scheint.

  • Ist es o.k. Schimpansen ihrer Mutter wegzunehmen, um ihr Verhalten zu erforschen, selbst, wenn man sich um sie kümmert, wie um ein eigenes Kind?
  • Ist es o.k. sie glauben zu lassen, sie gehörten einer anderen Spezies an?
  • Ist es o.k. ihnen eine Welt zu zeigen, obwohl der Aufenthalt in ihr von Anfang an ein Ablaufdatum hat?
  • Ist es o.k. andere Menschen einer potenziellen Gefahr auszusetzen, die von wilden Tieren ausgeht?

Fazit

„Sprich mit mir“ ist ein wunderbarer gesellschaftskritischer Roman über Liebe, Loyalität und die Frage nach richtig und falsch. Sams Geschichte geht in jedem Fall unter die Haut. Spannend, traurig und unterhaltsam zugleich, spitzt sich die Lage immer weiter zu, bis sie sich in einem dramatischen Ende auflöst.

Eine ganz klare Leseempfehlung. Für alle.

Infos

Titel: Sprich mit mir
Autor: T.C. Boyle
Übersetzung: Dirk van Gunsteren
Verlag und Copyright: Hanser Literaturverlag
Seitenzahl: 352
Erscheinungsdatum: 25. Januar 2021
Preis: 25 € (gebunden)

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