Ich habe dieses Buch im Rahmen eines Bloggertreffens vom Dumont-Verlag auf der Leipziger Buchmesse bekommen, wo wir auch die sympathische Autorin kennen lernen durften. Seitdem ist mir nur Positives über den Roman zu Ohren gekommen und schlussendlich haben wir es als Sommerbuch im Rahmen des Buchclubs „Zeit zum Lesen“ gelesen.
Klappentext
Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern – und an schlechten Tagen auch um die Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda bekommt eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor taucht auf, der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda früher befreundet war. Viktor, der – genau wie sie – immer 22 Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends außer Kontrolle.
Meine Meinung
Ich schließe mich dem allgemeinen Hype an: Dieser Roman ist großartig! Das Buch hat mich von der allerersten Seite an begeistert; dabei kann ich euch gar nicht genau sagen, wie Caroline Wahl das geschafft hat.
Charaktere
Die Handlung ist im Klappentext schon gut umrissen, daher komme ich direkt zu den großartigen Figuren: Ich bin nicht sicher, ob und wieviel autobiografisches in der Geschichte steckt, aber sollte sie rein fiktional sein, ist es beeindruckend, wie unfassbar lebensecht die Autorin ihre Charaktere gezeichnet hat. Und das, obwohl einige Punkte in meinen Augen etwas unstimmig erscheinen. Bspw. dass Tilda immer noch im Supermarkt arbeitet, obwohl im Fachbereich Mathematik eigentlich ständig gutbezahlte Tutor*innen gesucht werden. Und dass sie eine herausragende Studentin zu sein scheint, zeigt schon, dass ihr Professor sie für eine Promotionsstelle in Berlin empfehlen will und dass sie Übungszettel allein im Bus lösen kann (die sind eigentlich so angelegt, dass man das nur in einer Lerngruppe hinbekommt). Trotzdem hat es großen Spaß gemacht, die „Scan-Szenen“ zu lesen:
Mineralwasser mit Kohlensäure, Mineralwasser mit Kohlensäure, Kinder Schokolade, Cola Kracher, Cini Minis, Lion Cereals, Smiley-Fries, Vollmilch, Vollmilch, Fischstäbchen, Tüte von der Fleischtheke, Toastbrot, Nutella, Nektarinen, Paradies-Creme Vanille, Paradies-Creme Karamell, Paradies-Creme Stracciatella. Mitte 30, weiblich, definitiv Mutter, bisschen assi, rate ich, sage „32,49 Euro“, schaue endlich hoch, und als ich in Viktors Gesicht blicke, kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Caroline Wahl: 22 Bahnen, S. 47
Ich verstehe auch ihren „Schwimmzwang“ sehr gut, da es der einzige Moment zu sein scheint, in dem sie nur für sich in eine andere Welt abtauchen kann; in der sie die volle Kontrolle hat. Nur die 22 verstehe ich nicht, eine Bahn mehr und sie hätte eine Primzahl…
Die Beziehung zu ihrer Schwester Ida und das starke Band zwischen ihnen, obwohl sie verschiedene Väter haben, fand ich sehr beeindruckend. Außerdem mochte ich Ida sofort: ihre Art, allen Scheiß, der mit ihrer Mutter passiert, über ihre Bilder zu verarbeiten. Oder ihre Tapferkeit, Tilda zur Annahme der Promotionsstelle zu ermuntern, wohlwissend, dass sie dann mit ihrer Mutter allein wäre. Sie macht eine unglaubliche Entwicklung durch und behauptet sich schlussendlich gegen ihre Mutter.
Für mich unvorstellbar, aber nicht weniger bewundernswert finde ich, dass die Schwestern trotz allem noch zur Mutter stehen, obwohl sie eigentlich ein Monster ist. Auch sie ist großartig in Szene gesetzt: Wie sie eigentlich immer da ist aber irgendwie auch wieder nicht.
Es gibt eine Szene, in der sich Tilda, Ida und ihre Mutter „Die Tribute von Panem“ ansehen und sich jede in einer Rolle des Films wiederfindet. Dieser Vergleich zwischen Tilda und Catness, die sich für ihre Schwester opfert, und die Mutter, die auf einmal stark sein soll für Prim bzw. Ida, weil die große Schwester nicht mehr da sein kann. Und Ida bzw. Prim, die stärker ist, als Tilda und Catness geglaubt haben – genial.
Leons Figur ist der nette Freund, eine sichere Wahl, aber eben niemand, der Libellen in Tildas Bauch zaubert. Das schafft nur Viktor, der auch eine heftige Hintergrundgeschichte mitbringt, was ihn mit Tilda verbindet (das macht den Charakter auch so spannend). Auf den ersten Blick schreit alles nach einer unheilvollen Bindung, aber nach und nach merkt man, was für ein guter Kerl er ist. Mich erinnert er ein wenig an Viktor Krumm von Harry Potter und ich habe die Szenen mit Viktor sehr geliebt.
Was ich sehr schön fand: Tilda sagt zwar selbst, das ist hier keine Liebesgeschichte, aber irgendwie ist es dann doch eine (und ihr wisst, ich stehe auf Liebesgeschichten!).
Sprachstil
Ich habe zwar Dreiteilung nicht ganz verstanden, wo doch die Geschichte durchgängig erzählt wird, aber das Buch lässt sich supergut lesen. Zugegeben, der Dialogstil ist etwas gewöhnungsbedürftig, da wie in einem Drehbuch vor jeder wörtlichen Rede der Name steht. Aber irgendwie bringt einem das die Figuren auch sehr nah. Außerdem schreibt die Autorin sehr bildhaft, so dass ich immer das Gefühl hatte direkt dabei zu sein: Im vollen Bus, auf der Bank im Schwimmbad bei Ursula, im Büro des Professors…
Insgesamt ist Caroline Wahl die realistische Darstellung einer problematischen Familienkonstellation gelungen, ohne bei Alkoholmissbrauch oder häuslicher Gewalt allzu plastisch zu werden. Außerdem schafft sie es, diese schwere Thematik leicht zugänglich und unterhaltsam zu machen. Dabei hat mir auch gefallen, wie sie informative Komponenten wie nebenbei mit einbaut (bspw. die Szene mit dem Suizidversuch).
Was ich mich jedoch schon gefragt habe, ist, warum nie das Jugendamt kontaktiert wurde?
Wann spielt der Roman?
Nicht ganz schlüssig erscheint mir die Zeitebene des Romans. Smartphones und die Verfilmung von „Die Tribute von Panem“ deuten auf die Gegenwart; Diddl-Mäuse, Window-Colour und Werbung zur Würstchenkette eher auf die 90er. In der heutigen Zeit sind die Universitäten auf Benachteiligungen – bspw. durch Pflege oder Fürsorge von Angehörigen – sensibilisiert; Tilda hätte also ohne weiteres einen Nachteilsausgleich bekommen können, der sie von der Anwesenheitspflicht entbindet und längere Abgabefristen einräumt…
Und wo?
Ich war übrigens sehr froh, dass der Roman in einer namenlosen Kleinstadt spielt und nicht direkt in Berlin.
Fazit
Ich möchte dieses Buch wirklich allen ans Herz legen, ganz besonders vielleicht jungen Menschen, die vor einer Veränderung stehen. Mich lässt der Roman mit einem sehr dankbaren Gefühl zurück: Für meine unbeschwerte Kindheit und intakte Familie und natürlich die Privilegien, die ich sowohl damals als auch heute noch genießen darf.
Ich hoffe es gibt bald mehr von der Autorin.
Kostenloses Rezensionsexemplar
Ich habe dieses Buch als kostenloses Rezensionsexemplar vom Dumont-Verlag zur Verfügung gestellt bekommen. Dies beeinflusst in keiner Weise meine Meinung.
Bibliografie
Titel: 22 BAHNEN
Autorin: Caroline Wahl
Verlag & Copyright: Dumont
Seitenzahl: 208
Erscheinungstermin: 18. April 2023
Preis: 22 € (Hardcover)