Graue Bienen von Andrej Kurkow

Spätestens als Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine startete, wollte ich endlich mal was zu dem Thema lesen und „Graue Bienen“ ist nach „Hundepark“ der zweite Roman, den ich mir dazu vorgenommen habe.

Inhaltsangabe des Verlags

Der Bienenzüchter Sergej lebt im Donbass, wo ukrainische Kämpfer und prorussische Separatisten Tag für Tag aufeinander schießen. Er überlebt nach dem Motto: Nichts hören, nichts sehen – sich raushalten. Ihn interessiert nur das Wohlergehen seiner Bienen. Denn während der Mensch für Zerstörung sorgt, herrscht bei ihnen eine weise Ordnung. Eines Frühlings bricht er auf: Er will die Bienen dorthin bringen, wo sie in Ruhe Nektar sammeln können.

Meine Meinung zur Handlung

Um ehrlich zu sein, hatte ich den Beginn seiner Reise bereits viel früher erwartet. Stattdessen widmet sich der Autor in der ersten Hälfte des Romans „nur“ dem Alltag von Sergej. In seinem Dorf in der grauen Zone sind nur noch er und sein Erzfeind/freund Paschka zurück geblieben. Tapfer halten sie seit nunmehr drei Jahren die Stellung – ohne Strom, ohne Tiere, ohne Supermarkt. Wir steigen im Winter in die Geschichte ein und das Setting wirkt so bildhaft, als würde ich ein Fernglas auf Malaja Starogradowka richten. Ich kann die Kälte spüren, Kohle hinterlässt schwarze Flecken und der Wodka brennt in der Kehle. Viel passiert nicht, doch die Eintönigkeit und das Gefühl des Abwartens passen gut zur Lebenswirklichkeit des Kriegsgebiets. Es wirkt authentisch. Gleichzeitig entwickelt das Buch einen Sog, des es mir unmöglich macht, es beiseite zu legen.

Als Sergej nach knapp 200 Seiten dann endlich aufbricht, um für seine Bienen und sich selbst etwas Ruhe vor dem Krieg zu finden, nimmt auch der Roman etwas Fahrt auf. Gleichzeitig werden wir noch tiefer in die Geschichte hineingezogen: Grenzkontrollen, Passierscheine, dazu jederzeit der Willkür von Behörden hilflos ausgeliefert zu sein – für mich als Europäerin im 21. Jahrhundert zu weit weg von meiner Realität, um es mir vorstellen zu können.

In einem kleinen Ort namens Wessele findet er zunächst die erhoffte Ruhe, fernab von Beschüssen und Krieg. Er lernt die freundliche und hilfsbereite Galja kennen, die sich in ihn verliebt. Doch nicht alle Bewohner nehmen ihn wohlwollend auf, die Auswirkungen des Krieges sind auch hier spürbar, die Menschen sind gezeichnet. Und so wird es für Sergej zu gefährlich, um zu bleiben und er zieht weiter bis auf die Krim in der Hoffnung, bei einem Bienenzüchterkollegen unterzukommen. Doch der Tatar Achtem ist vor zwei Jahren verschleppt worden, sein Sohn kümmert sich um dessen Bienen. Seine Familie nimmt Sergej trotzdem herzlich auf. Damit bringt der Autor einen zweiten Konflikt mit ins Spiel: den Umgang von Christen mit Muslimen. Und wieder beschreibt Andrej Kurkow die Situationen so anschaulich, dass ich einerseits entsetzt bin und andererseits freut es mich, die Krimtataren, ihre Kultur und Geschichte kennen zu lernen (ich hatte von ihnen zuvor noch nie etwas gehört.).

Charaktere

Der Protagonist erscheint sehr sympathisch (er erinnert mich etwas an meinen schlesischen Opa), vor allem dadurch, dass er sich seine Menschlichkeit erhalten hat. So schlägt er sich über ein vermientes Feld, um einen gefallenen Soldaten mit Eis und gefrorenem Boden zu bedecken, um ihm so etwas wie ein Grab zu geben. Als er erfährt, dass dieser Soldat einen Rucksack voll Süßigkeiten für die Kinder im Nachbardorf dabei hatte, stapft er nochmal die gesamte Strecke durch den Schnee zurück, um sie zu ihnen bringen. Er versucht Galja keine falschen Hoffnungen zu machen, hilft die Wahrheit über Achtems Verbleib ans Licht zu bringen und vor allem kümmert er sich liebevoll um seine Bienen.

Immer wieder beschreibt der Autor auch Sergejs Träume, in denen sein Unterbewusstsein auf Hochtouren arbeitet und ihn letztendlich den Weg weist.

Sprachstil

Das gesamte Buch vermittelt eine bedrückende Stimmung, auch wenn Bienen und Natur dagegen ankämpfen. Der Krieg ist auf jeder Seite spürbar. Trotzdem schreibt der Autor mit einer Leichtigkeit, dass ich das Buch ungeachtet der Schwere des Themas in einem Rutsch durchlese: 450 Seiten in weniger als fünf Stunden.

???

Das Buch endet abrupt und für mich bleiben am Schluss einige Fragen offen: Warum hat ihn seine Frau mit der vierjährigen Tochter verlassen? Warum sind er und Paschka „Erzfeinde“, schließlich verhalten sie sich nicht so? Was haben die Russen seinem dritten Bienenstock angetan?

Fazit

Andrej Kurkow zeichnet ein authentisches Bild von der Lebenswirklichkeit der einfachen Leute in der Ukraine inmitten des immer noch andauernden Krieges.

Es kommt mir vor, als hätte ich persönlich Bekanntschaft mit Sergej geschlossen, während er mir diese Episode seines Lebens erzählt. Anschließend verabschieden wir uns und gehen beide wieder unserer Wege.

Während der Lektüre google ich mehrfach Orte, Regionen und Grenzgebiete; versuche Ereignisse politisch und historisch einzuordnen; lerne. Allein deshalb bin ich dem Autor sehr dankbar für dieses Buch.

Bibliografie

Titel: Graue Bienen
Autor: Andrej Kurkow
Übersetzung: Johanna Marx und Sabine Grebing
Verlag und Copyright: Diogenes
Seitenzahl: 448
Erscheinungsdatum: 24. Februar 2021
Preis: 13 € (Taschenbuch)

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