Das achte Leben (für Brilka) von Nino Haratischwili

Als ich zum ersten Mal von dem Buch hörte, wollte ich es unbedingt lesen, denn von Georgien oder seiner Geschichte wusste ich absolut nichts. Dann habe ich in der Buchhandlung mal reingelesen und änderte meine Meinung. Ich konnte einfach nichts mit der Rahmenhandlung anfangen und auch das Vorwort konnte mich nicht überzeugen. Und dann wurde es im Rahmen unseres eat.read.sleep Lesekreises ausgelost…

Klappentext

Dieser Roman ist über die Literaturwelt gekommen wie ein Naturereignis: ein wuchtiges Familienepos, das am Beispiel von sechs Generationen außergewöhnlicher Frauen das ganze pralle 20. Jahrhundert mit all seinen Umbrüchen und Dramen, Katastrophen und Wundern erzählt. Vom Georgien am Vorabend des Ersten Weltkriegs bis ins Deutschland zu Anfang des neuen Millenniums spannt Nino Haratischwili den Bogen. Alles beginnt mit Stasia, Tochter eines angesehenen Schokoladenfabrikanten. Mit ihrer Geburt setzt die Geschichte ein, die fortan wie ein gewaltiger Strom mit unzähligen Nebenarmen und Verwirbelungen durch Europa zieht und den Leser bis zur letzten Seite in ihrem Sog gefangen hält.

Meine Meinung

„Das Achte Leben (Für Brilka)“ ist eine Familiensaga, die sechs Generationen und 100 Jahre Georgischer Geschichte umspannt. Erzählt wird sie uns von Niza – oder besser gesagt – hat sie die Geschichte für ihre jugendliche Nichte Brilka (daher auch der Untertitel) niedergeschrieben, die gerade etwas orientierungslos nach ihrem Platz im Leben sucht und hofft, dass ihr die Vergangenheit dabei helfen kann. Aufgeteilt in 8 Bücher dreht sich jedes um ein anderes Familienmitglied; ein anderes Leben. Nur das Achte besteht aus unbeschriebenen Seiten, eben weil Brilkas Geschichte gerade erst beginnt. Die Erzählerin spricht Brilka direkt an und da sie natürlich in den seltensten Fällen direkt dabei war, vermischen sich ihre Vermutungen und Vorstellungen mit den überlieferten Fakten.

Mit jedem Buch erleben wir einen weiteren Abschnitt georgisch-russischer Geschichte und wie das Leben zu jener Zeit gewesen sein muss. Die Autorin gibt also ganz nebenbei einen fast lückenlosen historischen Abriss vom Fall des Zarenreiches bis zum Untergang der Sowjetunion und zeichnet gleichzeitig ein Bild der georgischen und russischen Gesellschaft. Diesen Punkt fand ich besonders interessant, denn ich muss gestehen, dass ich keine Ahnung hatte, wie stark die georgische mit der russischen Geschichte verknüpft ist.

Figuren

Der Stammbaum (der übrigens im hinteren Umschlag abgebildet ist – sehr hilfreich!) beginnt bei dem Schokoladenfabrikanten Nestor Lakischwili und seiner einzigartigen Rezeptur. Aber Vorsicht: in reiner Form, bspw. als heiße Schokolade zubereitet, ist der Genuss solch ein göttliches Erlebnis, dass das Gleichgewicht nur mit großem Unheil wieder hergestellt werden kann. Daher ist wohl zu überlegen, an wen dieses Geheimnis weitergegeben wird.

Buch 1 beginnt mit Stasia, eigentlich Anastasia, der Tochter des Schokoladenfabrikanten. Für mich ist sie das verbindende Element der Geschichte, denn sie hat im Laufe ihres 99jährigen Lebens alle sechs Generationen kennen gelernt. Obwohl sie eigentlich unabhängig bleiben wollte, um ihren Traum, Tänzerin zu werden, zu verwirklichen, verliebt sie sich in Simon Jaschi, einen zaristischen Leutnant, der mit ihr die Liebe zum Reiten teilt. Sie heiratet ihn und bekommt einen Sohn: Kostja. Damit rücken ihre Pläne in den Hintergrund. Doch als sich die politische Lage verschärft, schließt sich Simon der Roten Armee an und kehrt Georgien den Rücken. Er kommt als Veteran wieder, doch der Krieg steht zwischen dem Paar, was auch die Geburt der Tochter Kitty nicht ändern kann. Der Traum vom freien Georgien ist geplatzt und die Bolschewisten ergreifen auch hier die Macht.

Buch 2 stellt Anastasias wunderschöne Halbschwester Christine ins Zentrum der Geschichte, eine äußerst pragmatische Frau, die sich mit einem deutlich älteren Mann des sowjetischen Geheimdienstes verheiratet. Doch ihre Schönheit hat ihren Preis, denn der Vorgesetzte ihres Mannes, im Roman der „kleine große Mann“ genannt, besteht auf einer Affäre. Ich habe ehrlich gesagt nicht gewusst, wer sich dahinter verbirgt, aber den Internetrecherchen zufolge, soll damit der georgische Geheimdienstchef Beria gemeint sein. Christine ist sehr um die Gunst ihres Neffen Kostja bemüht und kümmert sich später auch um den Sohn ihrer Freundin. Sopio wurde Opfer des totalitären Systems, indem sie denunziert und infolgedessen aus dem Verkehr gezogen wird. Christine versucht nicht, in die politischen Geschehnisse einzugreifen, sondern sich lediglich in ihnen zurechtzufinden.

Schon bei Stasia konnte man erkennen, wie hart es für die Frauen damals war. Das zeigt sich auch in Christines Leben. Ihr Mann versucht sie letztendlich mit einer grausamen Tat vom Fluch der Schönheit zu befreien.

Buch 3 und 4 widmen sich den Kindern Stasias: Konstantin (Kostja) und Kitty. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Während er sich regimetreu dem Militär anschließt und damit Teil des totalitären Regimes wird, entwickelt sich Kitty zu einem Freigeist, dem es letztendlich als einzigem gelingt, in Freiheit zu gelangen.

Buch 3 dreht sich um Stasias Sohn Kostja. Er ist für mich der unsympathischste Charakter der Familie, wenngleich seine Figur eine nachfühlbare Persönlichkeit hat, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass er Teil des totalitären Systems wird und sich nach dem Tod des Vaters zum alleinigen Patriarch der Familie aufspielt und das Leben der weiblichen Mitglieder der Familie teilweise mit desaströsen Folgen beeinflusst (aber gleichzeitig mit ansehen muss, wie nicht nur seine Familie, sondern auch das Regime, für das er jahrelang kämpfte, langsam zerfällt). Dies schließt auch Andro mit ein, der sich in Kitty verliebt, aber unglücklicherweise im zweiten Weltkrieg die falsche Seite wählt – mit tragischen Folgen: Kitty erleidet einen unüberwindbaren Verlust und er erfährt lebenslange Ächtung und Gefangenschaft. Zwar lässt Andro seine Beziehungen spielen, um ihr zur Flucht zu verhelfen, macht aber auch keinen Hehl daraus, was er von ihr hält. Kittys Liebesgeschichte (Buch 4) hat mich am meisten berührt und mit ihr habe ich auch am meisten mitgelitten. Sie ist die Einzige, der es gelingt, Georgien zu verlassen.

Buch 5 gilt Kostjas Tochter Elene, die nach einer tragisch gescheiterten Liebschaft aus einer Vernunftehe hervorgeht. Sie ist ehrlich gesagt ebenso unsympathisch wie ihr Vater, was aber angesichts seiner unerfüllbaren Ansprüche an sie auch kein Wunder ist. Sie tut schon in jungen Jahren Ungeheuerliches und zerstört damit mehr als nur ein Leben. Außerdem bringt sie zwei Kinder von zwei verschiedenen Männern zur Welt; doch mit keinem von beiden bleibt sie zusammen. Daher schreitet Kostja ein und übernimmt kurzerhand die Erziehung seiner Enkel, wobei er keinen Hehl daraus macht, welches Enkelkind er bevorzugt.

Daria ist Mittelpunkt des 6. Buches. Vollkommen auf ihren Großvater geprägt, hält sie es nie lange bei ihrer Mutter aus und vergöttert auf der anderen Seite die mysteriöse und berühmte Tante Kitty. Ein eifersüchtiger und unsympathischer Charakter; sie bleibt also der Linie ihres Großvaters treu. Daria will Schauspielerin werden – gegen den Willen Kostjas. Und genau das schweißt die Halbgeschwister doch noch zusammen. Aber als sie dem gewalttätigen Lascha begegnet und ihn heiratet, ja sogar eine Tochter – Brilka – mit ihm bekommt, wird sie mit steigendem Wohlstand arrogant und mit fortschreitendem Alkoholgenuss uneinsichtig.

Sich selbst stellt die Ich-Erzählerin Niza in den Mittelpunkt des 7. Buches. Auch sie verlässt ihr Heimatland nach dem Untergang der Sowjetunion, um ihrer Familie zu entfliehen. Lange weigert sie sich, sich ihren Dämonen zu stellen; erst für Brilka setzt sie sich mit ihrer Familiengeschichte auseinander. Niza realisiert, dass man in einem totalitärem System keine Entscheidungsfreiheit haben kann und tragische Schicksale vorprogrammiert sind.

Das Ende ist zum Glück versöhnlich, sonst würde einen das Buch wohl auch sehr deprimiert zurücklassen. In gewisser Weise tut es das auch, aber vor allem nachdenklich und mit einer gehörigen Portion Redebedarf. Ich empfehle also, das Buch nicht allein zu lesen.

Die vielen Charaktere sind anfangs verwirrend und ich wäre ohne den Stammbaum mehr als einmal an den familiären Beziehungen verzweifelt. Neben den acht Hauptfiguren lernen wir ebenso detailreich gezeichnete Nebencharaktere kennen, wie bspw. Kittys jüdische Freundin Fred, deren Familie in Wien den Nazis zum Opfer fiel oder Stasias Tante Thekla in St. Petersburg, bei der Stasia nach der Revolution unterkommt: eine unfassbar starke Person, die sich den Bolschewiken widersetzt. Alle Figuren wirken so lebensecht, dass ich manchmal vergesse, dass ihre Schicksale fiktional sind. Jeder Charakter hat andere Eigenarten, Stärken und Schwächen. Vor allem Stasia hat mir sehr gefallen.

Eine besondere Dynamik bringen die Geschwisterpaare in die Geschichte, sowohl Stasia und Christina als auch Kostja und Kitty. So gegensätzlich sie auch sein mögen, so sind sie doch durch die Blutsverwandtschaft ein Leben lang verbunden.

Sprache

Nino Haratischwili schreibt sehr bildhaft und schafft damit eine Atmosphäre, die die Handlung greifbar und die Geschichte intensiv erlebbar macht. Und so reise ich von Georgien nach Russland, nach England und wieder zurück. Ich finde mich im ersten und zweiten Weltkrieg wieder und kann die Situation oft kaum aushalten.

Innerhalb der meist mehr als 100 Seiten starken Bücher konnte ich zunächst keine Kapitel erkennen. Es gibt dann und wann eine Leerzeile, die einen neuen Abschnitt ankündigt. Erst später habe ich realisiert, dass die eingestreuten Zitate wohl die Unterkapitel einläuten sollen. Diese Zitate; Liedtexte, politische oder religiöse Verweise, tragen für mich sehr zur Atmosphäre georgischer Kultur und Mentalität bei.

Zugegeben, es ist wirklich ein unsagbar dickes Buch; ich habe ganze drei Wochen daran gelesen. Aber es war nie langweilig, auch wenn ich bestimmt 100 Seiten gebraucht habe, um so richtig in die Geschichte reinzukommen. Und im Nachhinein wüsste ich nicht, wo man hätte kürzen können. Jede Seite ist notwendig, um die ganze Geschichte zu erzählen.

Fazit

„Das achte Leben“ ist eine exzellent recherchierte und grandios beschriebene Reise durch das 20. Jahrhundert Georgiens, wobei die Geschichten und Schicksale der Figuren eng mit jenen des Landes verknüpft sind. Diese Zeiten waren blutig und so ist auch das Buch geprägt von Gewalt, Korruption, geheimen Machenschaften und einem zutiefst patriarchalisch geprägten System, was selbst die vorletzte Generation noch zu spüren bekommt. Aber auch die Liebe kommt nicht zu kurz. Insgesamt ist es ein sehr menschlicher Roman.

Bibliografie

Titel: Das achte Leben (Für Brilka)
Autor: Nino Haratischwili
Verlag & Copyright: Ullstein Taschenbuch
Seitenzahl: 1.280
Erscheinungstermin: 08. September 2017
Preis: 22,99 € (Klappenbroschur)

Beitrag erstellt 341

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Verwandte Beiträge

Beginne damit, deinen Suchbegriff oben einzugeben und drücke Enter für die Suche. Drücke ESC, um abzubrechen.

Zurück nach oben