Die Kinder sind Könige von Delphine de Vigan

Für dieses grandiose Buch muss ich mich bei unserem eat.READ.sleep Lesekreis Göttingen bedanken, denn da mich die ersten 30 Seiten nicht überzeugen konnten, wäre das Buch eigentlich nie bei mir eingezogen. Dabei ist es rückblickend wirklich gut geschrieben und behandelt ein ebenso aktuelles wie wichtiges Thema.

Klappentext

Mélanie war asl junges Mädchen ein großer Fan von Formaten wie „Big Brother“. Sie hatte stets davon geträumt, gesehen und berühmt zu werden. Jahre später, als Mutter zweier Kinder, ist es ihr gelungen: Sie ist eine erfolgreiche Youtuberin mit Tausenden von Followern. Objekt ihrer Videos und Posts sind ihre Kinder, die auf Schritt und Tritt gefilmt werden. Seit Kurzem komt ihre kleine Tochter Kimmy dem Filmen jedoch immer unwilliger nach. Mélanie tut das als eine Laune ab. Denn wie könnte man die unendliche Liebe, die ihnen aus dem Netz entgegenkommt, als Last empfinden? Kurz darauf verschwindet Kimmy nach einem Versteckspiel spurlos.

Inhaltsangabe des Verlags

Wie, fragt sich die ermittelnde Polizeibeamtin Clara, soll man einen Verdächtigen ausmachen bei einem vermissten Kind, das Tausende Menschen kennen und mehrfach täglich sehen? Schnell begreift sie, dass ihre Ermittlungsmethoden in der virtuellen Welt vollkommen nutzlos sind. Einer Welt, von der sie bis zu diesem Fall so gut wie nichts wusste. Ihre Arbeit findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, und auch privat ist sie eine zurückgezogene Frau. Schon immer konnte sie mit ihrem Alleinsein umgehen. Mélanie dagegen kann ohne die Aufmerksamkeit ihrer Follower nicht leben. Alles, was sie ist und was sie erreicht hat, verdankt sie dem Netz. Nicht einen Moment kommt ihr der Gedanke, ihre Tochter könnte dieses Leben nicht lieben, könnte sich vielmehr danach sehnen, ein unbekanntes Mädchen zu sein. Den Vorwurf der Ausbeutung ihrer Kinder weist Mélanie verletzt von sich. Und doch wird sie Jahre nach Kimmys Verschwinden genau dessen angeklagt.

Meine Meinung

Die ersten Seiten erinnern an eine Doku über Big Brother, was vermutlich der Grund war, warum ich dieses Buch ursprünglich gar nicht lesen wollte. Doch die Geschichte ist aus dem Leben gegriffen, was es gleichzeitig ziemlich gruselig macht. Und am Ende wissen wir auch, was aus Kim und Sammy geworden ist oder besser: Was solch eine Kindheit mit einem macht. Dieser Blick in die Zukunft auf den letzten 50 Seiten rundet die Handlung ab, dämpft etwas meine Wut und lässt rückblickend selbst den Prolog sinnvoll erscheinen.

Die Figuren sind exzellent ausgearbeitet. Ich habe fast selbst das Gefühl, eine von Mélanies Follower*innen zu sein. Allerdings war sie mir schon als Jugendliche unsympathisch und während sie sich immer mehr in den Social Media Wahn hineinsteigert, nimmt dieses Gefühl stetig zu. Einerseits scheint sie nur für ihre Follower*innen zu leben, andererseits blitzt manchmal echte Sorge um Kimmy auf. Während der Entführung schwanke ich zwischen verschiedenen Tatmotiven hin und her:  Ein Fan, Rache, Neid, Geldgier etc. Oder ist Kimmy vielleicht einfach nur weggelaufen? Gleichzeitig kommt mir immer wieder der Verdacht, dass Mélanie etwas damit zu tun haben könnte, um noch mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber so, wie sich ihre Mutter und Schwester verhalten, ist es vielleicht auch kein Wunder, wie sie geworden ist. Die beiden spielen keine große Rolle, aber sie tragen zum Verständnis von Mélanies komplexen Charakter bei. Gekonnt zeigt Delphine de Vigan an Mélanies Figur, wie weit Selbst- und Fremdwild auseinander liegen können. Für mich ist sie eine Horrormutter, während sie sich selbst vermutlich als Mutter Theresa wahrnimmt.

Wen ich tatsächlich nicht verstehe, ist ihr Ehemann Bruno. Aber vermutlich ist sein Verhalten durchaus realistisch: Dieses, es einfach nicht wahrhaben, die Anzeichen nicht erkennen wollen. Daher söhnt mich auch hier der Schluss mit der Figur aus.

Sammy und Kimmy selbst sind unglaublich gut getroffen. Man spürt die Kindlichkeit und die in so jungen Jahren bereits bestehende innere Zerrissenheit zwischen dem, was man selbst will und dem Wunsch, anderen zu gefallen (insbesondere den eigenen Eltern als engsten Vertrauenspersonen).

Während Kimmy sich mehr und mehr weigerte, mitzumachen, kam Sammy den Wünschen seiner Mutter nach. Rückblickend erklärt sich:

Je mehr sich Kimmy entzog, desto fügsamer wurde er. Je deutlicher sie revoltierte, desto mehr zeigte er seine Zustimmung. Weil sie Nein sagte, sagte er Ja. Und weil er Ja sagte, durfte sie Nein sagen.

Delphine de Vigan: Die Kinder sind Könige, S. 271

An Sammys Erwachsenen-Ich zeigt sich die Problematik, wenn man aussteigen will und welche Rolle die Follower*innen dabei spielen.

„Und das war der Moment, in dem Sie all Ihre Konten gelöscht haben?“
„Ja. Aber so einfach geht das nicht. Wenn die Leute das Bedürfnis haben, Sie zu sehen, zu wissen, wo Sie sind, was Sie tun, wenn die Ihre Ratschläge und Witze brauchen, wenn Tausende Menschen von Ihnen abhängen, von Ihrem Leben und Ihrer Stimmung, und bereit sind, dafr zu zahlen, dann haben Sie nicht das Recht zu verschwinden.“

Delphine de Vigan: Die Kinder sind Könige, S. 287

Und als Kimmy wieder auftaucht, stelle ich mir die gleiche Frage, wie sie sich später als Erwachsene: Will denn niemand das Kind fragen, ob es diese Auszeit vielleicht sogar genossen hat?

Stilistisch gut gelungen fand ich den Wechsel zwischen der Erzählung aus mehreren Perspektiven und den eingestreuten Berichten der Procedurier Clara zum Fall der vermissten Kimmy. Sie strukturieren den Text und bieten einen guten Blick von Außen.

Um Claras Charakter selbst zu erfassen, erfahren wir zu wenig. Es sind immer nur eingestreute Hinweise aus ihrer Vergangenheit. Sie kennt sich mit den Sozialen Medien nicht aus und so begleiten wir sie in diese Welt (d.h. es ist auch für non digital natives gut zu lesen). Sie ist es auch, die die richtigen Fragen stellt, über die ich noch lange nachdenke.

Was können sich Kinder wünschen, die alles haben?
Was sind das für Kinder, die so leben, begraben unter eine Lawine von Spielzeug, das sie sich mangels Zeit nicht einmal haben wünschen können? (…)
Welche Art von Erwachsenen wird aus ihnen?

Delphine de Vigan: Die Kinder sind Könige, S. 118

Clara hat eine ganz bestimmte Sicht auf die Welt und Perspektive gibt zahlreiche Denkanstöße:

Manchmal fragt sich, wie groß der Anteil der Menschen ist, die sich wie sie beim Nachhausekommen umziehen. (…) Wie viele auf diese Weise ihr Draußen-Sein von ihrem Drinnen-Sein trennen.

Delphine de Vigan: Die Kinder sind Könige, S. 289

Diese Frau war weder Opfer noch Henker, sie gehörte zu ihrer Epoche. Einer Epoche, in der es normal war, dass man gefilmt wurde, noch bevor man zur Welt kam.

Delphine de Vigan: Die Kinder sind Könige, S. 200

Einen weiteren interessanten Blick auf die Geschehnisse erhalten wir durch den Psychologen Santiago Valdo, der sich von Anfang an mit dem Risiko von Social Media Exponiertheit von Kindern beschäftigt.

Gleiches gilt für Loic Serment, der einen YouTube Kanal betreibt und auf die Auswüchse des Internets, insbesondere YouTube hinweist. Aus seiner Sicht sind diese Kinder Opfer innerfamiliärer Gewalt und werden lange damit zu tun haben. Denn YouTuber zu sein ist kein Freizeitvergnügen, es ist Arbeit. Und ein Machtmissbrauch von Schutzbefohlenen.

Glauben Sie etwa, die dürften sagen „Nein, ich kann nicht mehr, ich höre auf“, wenn die ganze Familie von den Einkünften aus den Videos lebt?

Delphine de Vigan: Die Kinder sind Könige, S. 132

Fazit

Ein sehr stimmiger Roman, der unserer heutigen Gesellschaft anhand einer fiktiven Geschichte den Spiegel vorhält. Und was wir darin sehen, ist erschreckend. Durch die verschiedenen Blickwinkel der einzelnen Charaktere beleuchtet die Autorin den Umgang mit Social Media und seine Folgen. Mir hat sie vor allem gezeigt, wie schwierig es ist, Regelungen dafür zu finden, dass Eltern ihre Kinder nicht als Geldeinnahmequelle ausnutzen. Und die Geschichte von Kim und Sammy wird mich wohl noch eine Weile beschäftigen.

Bibliografie

Titel: Die Kinder sind Könige

Autorin: Delphine de Vigan

Übersetzung: Doris Heinemann

Verlag & Copyright: Dumont

Seitenzahl: 320

Erscheinungstermin: 07. März 2022

Preis: 23 € (Hardcover)

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