Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert von Joël Dicker

Das Buch erschien bereits 2013 und ich habe keine Ahnung, wie sich dieses Meisterwerk so lange vor einem Krimifan wie mir verstecken konnte – vielleicht, weil ich damals noch nicht so stark in der Literatur-Community unterwegs war. Das unterstreicht aber nur, was ich letztens bei Karla Paul in der @Buchkolumne gelesen habe: nämlich, dass man auch immer mal wieder über großartige Backlisttitel berichten sollte; denn bei der riesigen Anzahl jährlicher Neuerscheinungen, gerät auch ein 5-Sternebuch schnell wieder in Vergessenheit…

Inhaltsangabe des Verlags

Es ist der Aufmacher jeder Nachrichtensendung. Im Garten des hochangesehenen Schriftstellers Harry Quebert wurde eine Leiche entdeckt. Und in einer Ledertasche direkt daneben: das Originalmanuskript des Romans, mit dem er berühmt wurde. Als sich herausstellt, dass es sich bei der Leiche um die sterblichen Überreste der vor 33 Jahren verschollenen Nola handelt und Quebert auch noch zugibt, ein Verhältnis mit ihr gehabt zu haben, ist der Skandal perfekt. Quebert wird verhaftet und des Mordes angeklagt. Der einzige, der noch zu ihm hält, ist sein ehemaliger Schüler und Freund Marcus Goldman, inzwischen selbst ein erfolgreicher Schriftsteller. Überzeugt von der Unschuld seines Mentors – und auf der Suche nach einer Inspiration für seinen nächsten Roman – fährt Goldman nach Aurora und beginnt auf eigene Faust im Fall Nola zu ermitteln…

Aufbau und Handlung

Dieses Buch vereint mehrere Stile und Genre zu einem grandiosen Gesamtwerk.

Im Wesentlichen gibt es zwei Handlungsebenen: Eine spielt 2008, in der uns der junge Schriftsteller Marcus Goldman berichtet, wie er versucht, seine Schreibblockade zu überwinden und nach Aurora zurückkehrt, um seinem Mentor Harry Quebert in einer schwierigen Lebenslage beizustehen. Er beginnt Nachforschungen anzustellen und gerät dabei selbst in die Schusslinie. Sein Bestreben, die Wahrheit ans Licht zu bringen, mündet in einem neuen Buch, aus dem wir immer wieder Passagen zu Lesen bekommen. Gleiches macht Joël Dicker mit der Zeitlinie von 1975, in der wir den Autor Harry Quebert bei der Entstehungsgeschichte seines Buches begleiten. Diese ist eng verknüpft mit dem Beginn einer verbotenen Liebe zwischen ihm und Nola, bildet sie doch die Grundlage für den Bestseller „Der Ursprung des Bösen“. Und auch hier erhalten wir Einblicke über Textauszüge. Aber wenngleich es sich um romantische Gefühle handelt, wurde die Grenze zu einer körperlichen Beziehung nie überschritten. Es werden keine Zärtlichkeiten beschrieben, tatsächlich gibt es noch nicht einmal einen Kuss. Stattdessen webt der Autor Shakespeare-artige Liebesbriefe von Harry und Nola mit ein, um die Tiefe ihrer Bindung zu verdeutlichen.

Darüber hinaus gibt es kurze Rückblicke in die Zeit, als Marcus und Harry sich am College kennenlernten. Hier finden sich neben der Erzählperspektive immer wieder Lektionen, wie ein gutes Buch aufgebaut und geschrieben wird.

So ist „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ gleichzeitig Kriminalroman und Anleitung einen solchen zu schreiben. Wobei sich Joël Dicker präzise an die Ratschläge seines Protagonisten hält, denn besser als in folgender Passage lässt sich mein Gefühl nach dem Auslesen dieses Werks wirklich nicht beschreiben:

Ein gutes Buch lässt sich nicht allein an seinen letzten Worten bemessen, sondern an der Gesamtwirkung aller vorausgegangenen Worte, Marcus. Ungefähr eine halbe Sekunde nachdem der Leser mit Ihrem Buch fertig ist, nachdem er das letzte Wort gelesen hat, muss er spüren, wie ihn ein starkes Gefühl überkommt. Er muss einen Moment lang an nichts anderes denken als an das, was er gerade gelesen hat, und den Einband mit einem Lächeln, aber auch mit einer Spur von Traurigkeit betrachten, weil ihm alle Figuren fehlen werden. Ein gutes Buch, Marcus, ist ein Buch, bei dem man bedauert, dass man es ausgelesen hat.

Joël Dicker: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert, S. 721

Jetzt könnte man meinen, ein solches Hin- und Her zwischen Jetzt-Zeit, Rückblicken und Schriftstücken, hemme den Lesefluss. Dies ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil: Dieser Stil lockert die Geschichte extrem auf und macht sie abwechslungsreich. Selbst im letzten Drittel, wo sich die Ereignisse regelrecht überschlagen, behält man immer den Überblick.

Schreibstil und Spannungsbogen

Der Roman entwickelt bereits auf den ersten Seiten eine derartige Sogwirkung, dass ich das Buch kaum aus der Hand legen konnte.

Joël Dicker spielt mit menschlicher Psyche und Erwartungshaltung. Eine Fährte nach der anderen führt mich in die Irre, einfach, weil jede einzelne von ihnen absolut plausibel erscheint. Und immer wenn ich denke: „alles klar, das ist also jetzt die Auflösung“, haut mich der nächste Plottwist um. Dabei gibt er uns Kapitel für Kapitel alle Informationen, die man zur Lösung braucht. Doch erst ganz am Ende setzen sich alle Ungereimtheiten zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammen und jedes noch so kleine Puzzleteil findet seinen Platz. Das schafft sonst eigentlich nur Agatha Christie.

Charaktere

Die Figuren sind fantastisch: Allesamt Detailverliebt ausgearbeitet, mit eigener Hintergrundgeschichte und Bedeutung für den Roman. Vor allem gefällt mir, wie facettenreich jede:r Einzelne gezeichnet ist, so dass man sie unmöglich einfach in gut/böse oder sympathisch/unsympathisch einteilen kann. Zusammen bilden sie die Einwohner:innen einer typischen amerikanischen Kleinstadt; ich hatte Aurora direkt vor Augen.

Harry Quebert mochte ich sofort (und die Besetzung mit Patrick Dempsey in der Verfilmung hat ihn für mich ausgezeichnet getroffen). Ich habe aber auch ein Faible für amerikanische College-Professoren und Schriftsteller. Seine romantische Zuneigung zu Nola wirkte zwar authentisch; so ganz nachvollziehen konnte ich sie aber nicht.

Die Protagonistin ist keine wirkliche Sympathieträgerin und ihr wahrer Charakter offenbart sich auch erst ganz am Ende des Romans. Ihre Figur ist für eine Fünfzehnjährige ausgesprochen komplex und vielschichtig, mich erinnert sie ein wenig an eine Matroschka Puppe, bei der immer wieder eine neue Version zum Vorschein kommt. Anfangs hatte ich ein paar „Meine dunkle Vanessa“ Vibes, aber tatsächlich hat mich dieser Bezug nur in die Irre geführt.

Marcus Goldman ist vom Wesen her Harry Quebert nicht ganz unähnlich. Wie sehr erfahren wir jedoch erst mit der Auflösung. So ist es nicht verwunderlich, dass der Professor seinen Schüler sofort durchschaut. Er konfrontiert ihn damit, ein Blender zu sein, ein Schwächling, Angsthase, Schaumschläger und Augenwischer. Er misst sich immer nur mit Schwächeren und verkauft das (erfolgreich) als Sieg. So hat er es in seinem ganzen bisherigen Leben gemacht und gibt sich (bisher) damit zufrieden.

Wie gesagt, erscheinen auch die restlichen Figuren sehr lebensecht. Bei einem Charakter hatte ich noch eine ganz besondere Assoziation, und zwar erinnerte mich Tamara Quinn etwas an Harriet Ohlsen aus „Unsere kleine Farm“, insbesondere beim Versuch, eine Verbindung zwischen Harry und ihrer Tochter Jenny anzubahnen.

Verfilmung

Das Buch wurde übrigens grandios als 10teilige Serie verfilmt. Der Stil erinnert mich etwas an Twin Peaks, aber ohne das Abgedrehte. Derzeit kann man sie auf RTL+ streamen.

Fazit

Und schon wieder wird meine TOP 3 Liste über den Haufen geworfen. Was für ein Lesejahr! Und was für ein Schmöker! 730 Seiten und nicht eine Zeile zu viel oder gar langweilig.

Wer unblutige Spannungsliteratur liebt, kommt an diesem Buch nicht vorbei. Solltet ihr als Fan intelligenter Krimis zum Miträtseln nur ein Buch mit in den Urlaub nehmen können (oder wollen): Nehmt dieses!

Bibliografie

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Autor: Joël Dicker
Übersetzung: Carina von Enzenberg
Verlag und Copyright: Piper
Seitenzahl: 736
Erscheinungsdatum: 13. August 2013
Preis: 22,99 € (Hardcover)

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