Ein Lied vom Ende der Welt von Erica Ferencik

Das wunderschöne Cover hat mich sofort angezogen. Dazu versprach das Buch „Eine einzigartige Geschichte über wahre Freundschaft, Vertrauen und die wilde Schönheit der Arktis“. Da konnte ich nicht widerstehen.

Nur das ewige Eis kennt die Wahrheit… (Inhaltsangabe des Verlags)

Ein Anruf wirft die Linguistin Valerie völlig aus der Bahn. Wyatt, ein Forschungskollege ihres toten Bruders, hat in der Arktis ein Mädchen gefunden, das eine unbekannte Sprache spricht. Obwohl Valerie den Ort fürchtet, an dem ihr Bruder starb, reist sie ins ewige Eis. Dort droht die Situation sie zu überwältigen: Die Natur ist wild, Wyatt brillant, aber unberechenbar. Einzig zu dem Mädchen Naaja spürt Valerie eine tiefe Verbindung, und es gelingt ihr, dessen Vertrauen zu gewinnen. Aber Naaja wird jeden Tag schwächer, und Wyatt verhält sich immer rätselhafter. Valerie weiß, dass sie auf ihre Intuition vertrauen und Naaja retten muss – selbst wenn sie damit ihr Leben aufs Spiel setzen muss …

Meine Meinung

Ich nehme mal vorweg, dass ich mir von diesem Buch mehr versprochen habe; vor allem mehr Atmosphäre. Die Geschichte entwickelt sich sehr langsam, erst auf den letzten 100 Seiten nimmt die Handlung fahrt auf. Dann fliegen die Seiten aber nur so dahin und was als recht oberflächlicher Wissenschafts-/Familienroman in der unwirtlichen Arktis begann, entpuppt sich gegen Ende als reinster Psychothriller.

Oberflächlich betrachtet, versuchen eine Handvoll „kaputte“ Wissenschaftler*innen die Geschichte des „Eis-Mädchens“ herauszufinden. Doch bei näherer Betrachtung offenbart sich eine philosophische Komponente, die über einen entsprechenden Sprachstil transportiert wird. Überhaupt zieht sich das Thema Sprache und Kommunikation wie ein roter Faden durch das Buch, aber es geht auch um Vertrauen, Angst und letztendlich ums nackte Überleben.

Diesen sprachwissenschaftlichen Aspekt mochte ich sehr. Wusstet ihr bspw. dass das japanische Wort „yūgen“ eine Bezeichnung für etwas ist, das Gefühle erzeugt, für die es keine Worte gibt (S. 121)?

Oder das Wort „Taimagiakaman“. Das ist Inuit und bedeutet: Notwendigkeit, über die Natur Bescheid zu wissen, um am Leben zu bleiben (S. 300).

Charaktere

Die Autorin erklärt in einem Interview am Ende des Buches, dass sie für alle ihre Figuren psychologische Profile erstellt. Und das merkt man tatsächlich auch beim Lesen, denn ihre Charaktere wirken sehr real.

Mit der Protagonistin Valerie solidarisiere ich mich sofort. Ihr Kummer über den Verlust ihres Bruders, die Ungewissheit über den Hergang seines Todes, aber auch ihre wissenschaftliche Neugier sind spürbar.

Wyatt ist von Anfang an unsympathisch. Seine Karriere ist vorbei – er hätte sich nicht mit einer Studentin einlassen dürfen – und so sind ihm alle Mittel recht, um einen letzten Erfolg zu verbuchen. Was mich etwas irritiert: er wird als „brillant“ hingestellt, was aber in keinem Absatz deutlich wird.

Seine nichtwissenschaftliche Assistentin Jeanne ist am Tod ihres Mannes und Kindes zerbrochen. Sie scheint in Wyatt verliebt zu sein, in jedem Fall ist sie ihm hoffnungslos ergeben. Daher merkt man schnell, dass sie in Valeries Bruder Andy nur eine Konkurrenz um Wyatts Gunst sah, was erklärt, dass sie weder Andy noch Valerie besonders zugetan ist.

Auch das Wissenschaftspärchen Nora und Raj sind vom Verlust ihres Sohnes gezeichnet, aber im Grunde wollen sie nur das „Richtige“ tun.

Last but not least wäre da noch das Mädchen aus dem Eis: Naaja. Ihr Charakter ist auch unglaublich gut gezeichnet. Stellt euch mal vor, ihr seid 8 Jahre alt und erwacht in einer aus eurer Sicht Science Fiction-artigen Welt. Um euch herum nur Menschen, deren Sprache ihr nicht versteht.

Die Versuche, mit ihr zu kommunizieren und eine Verbindung aufzubauen sind fantastisch dargestellt. Man lernt viel über Sprache, insbesondere, dass es unmöglich ist, ohne Willen und gegenseitiges Vertrauen wirklich miteinander zu kommunizieren.

Im Zusammenhang mit Naaja geht es auch um die die ethische Frage, wie weit Wissenschaft gehen darf.

Sprachstil

Erika Ferencik schreibt sehr bildhaft und ihre Darstellung der Arktis ist wirklich anschaulich. Man merkt, dass sie zu Recherchezwecken vor Ort war. Ihre Sprache hat aber auch etwas Philosophisches:

Dieser Ort ist bloß die natürliche Wahl für Leute, die vom Rand der Welt springen wollen.

Erica Ferencik: Ein Lied vom Ende der Welt, S. 90

Sie ist aber auch hart, ebenso wie das Land, ungeschönt und brutal:

Naaja sank auf die Knie, holte ihr halbrundes Messer aus einer Innentasche ihres Parkas hervor und schlitzte dem Walross, ohne zu zögern, den Bauch auf. Ich glaube, wir waren alle zu geschockt, um näher zu kommen. Wir schauten lediglich zu, wie sie ihre bloßen Hände in die dampfende Bauchhöhle tauchte, die lila Leber herausriss und auf den Schnee warf.

Erica Ferencik: Ein Lied vom Ende der Welt, S. 295

Fazit

Ich glaube, mir ist es noch nie so schwer gefallen, ein Fazit zu einem Roman zu verfassen. Im ersten Moment nach der Lektüre habe ich gedacht, ich sei mal wieder durch ein traumhaftes Cover und Setting auf eine eher langweilige und uninteressante Geschichte hereingefallen. Auf den zweiten Blick erkenne ich jedoch die dahinterliegende Philosophie und von den Figuren sowie der Sprache war ich ja ohnehin begeistert.

Am besten lasst ihr euch das Buch blind in die Hand drücken und lest direkt rein, um zu entscheiden, ob der Roman etwas für euch ist.

Kostenloses Rezensionsexemplar

Ich habe dieses Buch als kostenloses Rezensionsexemplar vom Bloggerportal zur Verfügung gestellt bekommen. Dies beeinflusst in keiner Weise meine Meinung.

Bibliografie

Titel: Ein Lied vom Ende der Welt
Autorin: Erica Ferencik
Übersetzung: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
Verlag und Copyright: Goldmann
Seitenzahl: 384 Seiten
Erscheinungsdatum: 14. September 2022
Preis: 15,99 € (gebunden)

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