Frauen, an die ich nachts denke von Mia Kankimäki

Zugegeben, als ich den Titel „Frauen, an die ich nachts denke“ zum ersten Mal hörte, habe ich sicher nicht an ein Buch gedacht, in dem die Autorin mit ihren weiblichen Vorbildern Zwiegespräche führt. Als dann noch das Wort „Essays“ fiel, war eigentlich klar, dass ich diesen Roman NICHT lese. Aber dann wurde er für unsere Insta-Leserunde vorgeschlagen, woraufhin ich zumindest die Leseprobe überflog. Und was dann kam, war eine unglaubliche Reise zu einigen der inspirierendsten Frauen unserer Geschichte, von denen ich aber noch nie gehört habe. Mit ihrer Suche nach Nachtfrauen führt uns die Autorin an die entlegensten Orte der Welt und in eine Zeit, als Landkarten noch voller weißer Flecken und die Welt zu erforschen noch ein richtiges Abenteuer war.

Klappentext

Mia, Anfang vierzig, hat den Job gekündigt, die Wohnung verkauft, und während andere Familien haben und Sommerhäuser kaufen, denkt sie während zahlloser schlafloser Nächte an Frauen – und das hat nichts mit Sex zu tun, sondern mit der Suche nach dem Sinn des Lebens! Ihres Lebens! Ihre Nachtfrauen – furchtlose Entdeckerinnen, begabte Schriftstellerinnen und leidenschaftliche Künstlerinnen – sind Schutzheilige, die sie um sich versammelt, um sich den Weg weisen zu lassen. Und eines Tages beschließt sie, Ernst zu machen, die Welt zu bereisen und den Spuren ihrer Nachtfrauen wirklich zu folgen – Karen Blixen nach Tansania, Sei Shōnagon nach Japan, vergessenen Renaissance-Malerinnen nach Florenz. Denn wenn diese Frauen es vor Hunderten von Jahren in die Welt geschafft haben, warum sollte Mia das dann nicht auch können?

Der Aufbau

… des Buches ist sehr ungewöhnlich. In einem Mix aus Reisebericht, Briefen und Biografien nimmt uns die Autorin mit auf eine Spurensuche nach weiblicher Inspiration. Allerdings erscheint die Aufteilung etwas ungleichgewichtig: während sich hinter Teil I „Afrika“ nur eine Nachtfrau verbirgt, müssen sich „Die Forschungsreisenden“ und „Die Künstlerinnen“ jeweils ein weiteres Drittel teilen. Jede Nachtfrau wird in Steckbriefform vorgestellt, bevor uns ihre Geschichte erzählt wird. Was mir besonders gut gefällt: Aus ihren Erfahrungen und Einstellungen stellt die Autorin Ratschläge zusammen, die auch heute noch ihre Gültigkeit besitzen. Bspw.:

Zaudere nicht, geh! „Für gewöhnlich kommen einem die Dinge wesentlich schwieriger und beängstigender vor, wenn man sie vorab bedenkt, als man sie im Moment der Tat vor sich hat.“ Nachtfrau Nr. 5: Alexandra

Außerdem lässt sie uns immer wieder am Schreibprozess dieses Buches teilhaben und baut dazu hier und da ihre eigene Gedankengänge ein:

Ich gestehe: Die Frauen, an die ich nachts denke, sind zu zahlreich. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie viele sich von ihnen finden, wenn man erstmal anfängt zu suchen. Sie stehen an der Tür zu meinem Schlafzimmer, auf der Treppe, auf dem Dachboden, im Wintergarten dieses normannischen Hauses und im salzhaltigen Wind in der schmalen Straße, die zum Atlantik führt. Ich stopfe sie in diese Schreibtischschublade, denn irgendwie muss dieses Buch fertig werden, aber die Schublade hält sie nicht zurück, auch von dort dringen ihre Stimmen heraus wie Nebel, oder wie der volle Duft von geröstetem Kaffee, sie dringen in jeden Winkel des Hauses vor, bleiben an meinen Kleidern haften und werden mit der Atemluft in meinen Organismus eingesogen. Ich schlafe in ihrer Gegenwart, meine Notizbücher sind schwer von ihnen, ich wache am Morgen mit ihren Sätzen auf, die sich aber auflösen, wenn ich versuche, sie im halbwachen Zustand aufzuschreiben.

Mia Kankimäki: Frauen, an die ich nachts denke, S. 505

Etwas seltsam finde ich das Inhaltsverzeichnis am Ende des Buches. Außerdem hätte ich mir gewünscht, dass jede Nachtfrau mit Seitenzahl dort vertreten wäre.

Natürlich gibt es auch ein Literaturverzeichnis sowie Fotografien jeder einzelnen Nachtfrau.

Sprachstil

Die einzelnen Stationen ihrer Reise, sämtliche Biografien und eigene Gedanken sind informativ, bildhaft und fesselnd geschrieben. Man könnte den Roman also gut in einem weglesen. Durch die kurzen Abschnitte und Kapitel eignet es sich aber viel besser als Handtaschen- oder Nachtschrankbuch (letzteres passt auch viel besser zum Titel). Es wäre auch eine tolle Urlaubslektüre, aber ich denke, Mia Kankimäki möchte uns vor allem Mut machen, unsere (Reise-)Träume zu verwirklichen, denn die Atmosphäre, die sie heraufbeschwört – von den vielen mutigen und starken Frauen der Vergangenheit – ist ebenso inspirierend wie bestärkend.

Meine Meinung

Die erste Nachtfrau, die außerdem am ausführlichsten vorgestellt wird, ist Tania bzw. Karen Blixen. Ich gestehe, dass ich nur den Film „Jenseits von Afrika“ kenne und nicht erinnerte, dass es sich um eine autobiografische Vorlage handelt. Doch Mia Kankimäki hat so viel über Protagonistin zusammengetragen, dass ich beim Lesen das Gefühl bekomme, sie selbst zu kennen. Sonderlich sympathisch erscheint sie mir allerdings nicht gerade und auch die Autorin scheint nach der Recherche ihre Vorstellung von der perfekten Wunderfrau korrigiert zu haben. Besonders gut haben mir daher die Auszüge aus den Briefen und ihre Zwiegespräche mit Karen gefallen.

Im zweiten Teil erfahren wir, was sich Frauen damals alles ausdenken mussten, um überhaupt reisen zu dürfen und wie das Ganze zu der Zeit überhaupt funktionierte (ich meine Insekten und mangelnde Hygiene sind ja heute noch ein Thema!).

Die außergewöhnliche Biografie von Nachtfrau Nr. 2 – Isabella – katapultiert mich direkt ins frühe 19. Jahrhundert. Ihre Geschichte ist fantastisch geschrieben – fast so, als würde sie mir von der Autorin vorgelesen. Und ich kann so gut nachvollziehen, dass sich Isabella auf ihren Reisen um die ganze Welt in eine andere Person verwandelt – ungezwungen, mutig und unabhängig von Konventionen. Mit ihrem eigenen Reisebericht hält sich die Autorin in diesem Kapitel zurück, vielmehr kommentiert sie nur diesen „Schizophrenen“ Charakterzug Isabellas.

Ida – Nachtfrau Nr. 3 – reist mit geringem Budget und ist damit vermutlich die erste Backpackerin der Welt. Zunächst fügte sie sich in die Rolle als Ehefrau und Mutter – zumindest bis die Kinder außer Haus waren – dann jedoch verließ sie mit Mitte 40 mutig den verschwenderischen Ehemann, schützte eine Pilgerreise vor, und zog um die Welt. Auch wenn mich ihre Geschichte nicht so mitreißt wie die anderen, fand ich es interessant zu lesen, wie sie aus ihren Briefen und Tagebüchern Reiseberichte verfasste und veröffentlichte, um sich zu finanzieren. Denn selbstverständlich konnten nur Männer wahre Forschungsreisende sein. Kurioserweise waren es gerade „Frauenleiden“, gegen die als heilende Maßnahme Reisen verschrieben wurden.

Nachtfrau Nr. 4 – Mary – blieb ledig, hatte aber dennoch zahlreiche familiäre Verpflichtungen, die ihren Reiseplänen entgegenstanden. Ihre autodidaktischen Studien zahlreicher akademischer Fächer befähigten sie jedoch, in unerforschte Gebiete vorzudringen und blinde weiße Flecken auf Landkarten zu erschließen (ich bin so beeindruckt, wie sie mit Insekten und Krankheiten fertig wurde). Dabei lerne viel über das Afrika des späten 19. Jahrhunderts und erhalte (humorvolle?) Tipps zum Umgang mit Menschenfressern (man weiß ja nie…). Außerdem finde ich es unvorstellbar, wie sie mit langem Rock und Korsett im Kanu den Ogawé entlang paddelte und sämtlichen Stromschnellen trotzte.

Wir erfahren auch wieder mehr über die Autorin und ihre Reise nach Japan. Ehrlich gesagt hat mich diese Region der Erde nie gereizt – bis jetzt.

Allerdings hat das 4. Kapitel auch einige Längen.

Nachtfrau Nr. 5 – Alexandra – ist wahrlich beeindruckend, wenngleich sie zugleich etwas egoistisch und rücksichtslos erscheint. Wie sonst lässt es sich erklären, dass sie ihren Mann direkt nach der Hochzeit allein zurücklässt, um die erste von vielen von ihm finanzierten Forschungsreisen anzutreten, ohne je ganz wieder zu ihm zurückzukehren? Mit ihr wird es abenteuerlich und asketisch: Alexandra gelang es als erste weiße Frau, sich in die verbotene Stadt Lhasa einzuschleichen.

Nellie Blye – Nachtfrau Nr. 6 – ist eine meine Favoritinnen: sie reiste allein als eine Art Journalistin in 72 Tagen um die Welt: mit nur einem Kleid und einer Handtasche! Ihre Geschichte ist so verführerisch geschrieben, dass ich am liebsten gleich selbst aufbrechen möchte.

Der abschließende dritte Teil des Buches beginnt in der Gegenwart. Wir folgen der Autorin nach Florenz, um Malerinnen aus dem Zeitalter der Renaissance aufzustöbern. Mai Kankimäki gibt alles und findet schlussendlich Sofinisbar – Nachtfrau  Nr. 7. Zuvor erhalten wir jedoch noch einen kleinen Einblick in die Zukunftsaussichten eines jungen Mädchens des 16./17. Jahrhunderts: heiraten (a), Nonne werden (b) oder als Prostituierte arbeiten (c). Wofür hättet ihr euch entschieden? Sofonisba erschuf sich einen vierten Weg: Sie ging ins Kloster, nutzte die Zeit zum Malen und machte Karriere als Künstlerin. Als sie zu alt zum Kinderkriegen war, heiratete sie. Schlaues Mädchen…

Nachtfrau Nr. 8 – Lavinia – lässt sich auch von 12 Kindern nicht davon abbringen, Karriere als Malerin zu machen. Sie hat sich „einfach“ einem Mann gesucht, der das mitmacht.

In die Biografie von Nachtfrau Nr. 9 – Artemisia – tauchen wir wieder tiefer ein. Ihr Leben begann eigentlich recht vielversprechend: Ihr Vater lehrte sie alles über Malerei und ließ sie sogar bei einem Kollegen in die Lehre gehen. Doch als dieser sie vergewaltigte, blieb ihrem Vater anscheinend nichts anderes übrig, als sie mit dem erst besten zu verheiraten. Sie verarbeitet ihr Trauma in Gemälden und macht Karriere als Künstlerin. Sagt euch der Titel „Judith und Holofernes“ etwas? Michelangelo und Galileo Galilei (die sie übrigens beide kannte!) sind sicher allen ein Begriff, aber warum habe ich noch nie etwas von Artemisia gehört? Trotz Kunst-Leistungskurs? Vergesst es, das war eine rhetorische Frage… An ihrer Geschichte gefällt mir besonders gut, wie die Autorin die Schwierigkeit der organisatorischen Komponente ihrer Arbeit – Aufträge an Land ziehen, Vorauszahlungen für Materialien und Modelle verhandeln oder die stetige Angst vor Plagiaten – schildert, denn Artemisia steckte trotz ihres Erfolgs immer in finanziellen Schwierigkeiten. Für Mika Kanimäki ist sie eine Feministin auf praktischer Ebene, weil sie darum kämpfte, als Künstlerin ebenso behandelt und bezahlt zu werden wie ein Mann.

Lediglich zu Yayoi (Nr. 10) finde ich keinen Zugang. Vielleicht weil sie die einzig moderne Nachtfrau ist…

Fazit

„Frauen, an die ich nachts denke“ ist ein unerwartetes Jahreshighlight und Empowerment pur. Auch ich kann die Nachtfrauen jetzt rufen hören: wenn ich meinen Koffer packe, mit einer Entscheidung hadere oder mich für etwas nicht bereit oder gut genug fühle.

Kostenloses Rezensionsexemplar

Ich habe dieses Buch als kostenloses Rezensionsexemplar vom Bloggerportal zur Verfügung gestellt bekommen. Dies beeinflusst in keiner Weise meine Meinung.

Bibliografie

Titel: Frauen, an die ich nachts denke
Autorin: Mia Kankimäki
Übersetzung: Stefan Moster
Verlag und Copyright: btb
Seitenzahl: 560
Erscheinungsdatum: 16. Mai 2022
Preis: 12 € (Klappenbroschur)

Beitrag erstellt 334

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Verwandte Beiträge

Beginne damit, deinen Suchbegriff oben einzugeben und drücke Enter für die Suche. Drücke ESC, um abzubrechen.

Zurück nach oben