Dieses Buch habe ich beim 3Sat Literaturclub entdeckt. Allerdings lag es anschließend einige Zeit auf meinem SuB – und läge es wohl heute noch, wenn es nicht für unseren eat.read.sleep Lesekreis ausgelost worden wäre.
Klappentext
Rebecca, Schauspielerin, über fünfzig und immer noch recht gut im Geschäft. Oscar, dreiundvierzig, Schriftsteller, der mit seinem zweiten Roman hadert, und Zoé, noch keine dreißig, Radikalfeministin und Social-Media-Aktivistin. Diese drei, die unterschiedlicher nicht sein könnten, treffen nach einem verunglückten Instagram-Post Oscars aufeinander. Wie? Digital. Und so entsteht ein fulminanter Briefroman des 21. Jahrhunderts, in dem alle wichtigen gesellschaftlichen Themen unserer Zeit verhandelt werden. Rebecca, Oscar, Zoé, alle drei sind vom Leben gezeichnet, voller Wut und Hass auf andere – und auf sich selbst. Aber sie müssen erkennen, dass diese Wut sie nicht weiterbringt, sondern nur einsamer macht, dass Verständnis, Toleranz und sogar Freundschaft erlernbar und hin und wieder sogar überlebenswichtig sind.
Meine Meinung
Der Roman beginnt mit Oscars ziemlich unschönem Instagram-Post:
Habe Rebecca Latté gesehen, in Paris. (…) Tragische Metapher einer Epoche, die den Bach runtergeht – diese göttliche Frau (…) heute zu einer Schlampe verkommen. Nicht nur alt. Sie ist auch auseinandergegangen, verlebt, schlechte Haut, ein schmuddeliges, lautes Weibsstück.
Virginie Despentes: Liebes Arschloch, S. 5
woraufhin sie nicht weniger beleidigend erwidert:
Liebes Arschloch,
Virginie Despentes: Liebes Arschloch, S. 6
ich habe deinen Beitrag auf Insta gesehen. Du bist wie eine Taube, die mir im Vorbeifliegen auf die Schulter kackt. (…) Ich hoffe jetzt nur, dass deine Kinder von einem Lastwagen überfahren werden und du ihren Todeskampf mitansehen musst, ohne etwas tun zu können, und dass ihnen die Augen aus den Höhlen spritzen und ihre Schmerzensschreie dich jeden Abend verfolgen.
An dieser Stelle möchte ich einfügen, dass ich die Form des Email-Romans für die Geschichte sehr passend fand, auch wenn es mir oft so vorkam, als schrieben sie aneinander vorbei. Jede*r möchte seine Gedanken loswerden, aber sie gehen selten wirklich auf den jeweils anderen ein.
Was als Hass-Beziehung beginnt, verwandelt sich in meinen Augen etwas zu schnell in eine vertrauensvolle Brieffreundschaft. So wirkt es leider sehr konstruiert.
Und man muss mit dem rotzig-dreckigen und hart-unerbittlichen Sprachstil zurechtkommen.
Charaktere
Keine der Figuren war mir sympathisch, denn in gewisser Weise sind sie alle Arschlöcher; selbst Zoe als Opfer Oscars‘ übergriffigem Verhalten ist schier unerträglich. Natürlich ist es traurig, dass sie keinen anderen Ausweg sieht, als zu kündigen; aber gleich als radikalfeministische Bloggerin im Rahmen von #MeToo eine Hasskampagne gegen Oscar und alle Männer dieser Welt zu starten, hat schon was unangenehm selbstdarstellerisches… Sie hat wohl auch nicht damit gerechnet, dass der Shitstorm sich nicht auf ihn allein erstreckt und sie mindestens genauso viel Hass im Netz abbekommt wie er. Ihr Blickwinkel wird uns durch ihre Blogeinträge und Posts auf Social Media zugänglich gemacht. Zoes Figur ist jedoch nur eine Nebenrolle und eigentlich geht es auch gar nicht vorrangig um #MeeToo & Co, sondern vielmehr darum, was Oscar und Rebecca so vereint: ihre Sucht (und ihr Altern). Und genau diese teilweise etwas unkritisch dargestellten Dialoge über Drogen nahmen mir etwas zu viel Raum in dem Buch ein.
Oscar, dem ich anfangs noch die Chance des zu Unrecht Beschuldigten einräumte, stellt sich als stereotypes „Täter-Arschloch“ heraus, das sich anscheinend nicht damit abfinden konnte, dass Zoe nichts von ihm wollte und nun in Selbstmitleid versinkt. Seine Figur macht eine geradezu lehrbuchartig wirkende Charakterentwicklung durch, während sie nach und nach dahinterkommt, dass der Fehler bei ihr lag. Wir können also seine Läuterung mitverfolgen.
[ACHTUNG SPOILER!]
Dass Oscar sich am Schluss auch noch als Bi herausstellt, erscheint mir sehr konstruiert.
[SPOILER ENDE!]
Rebecca – eine Jugendfreundin von Oscars Schwester – ist eine richtige Diva. Wie Oscar ist sie ein extrem narzisstischer und zynischer Charakter, voller Wut, die sie mit Alkohol und Drogen zu dämpfen versuchen.
Doch die Autorin lässt geschickt drei Generationen mit verschiedenen Positionen online aufeinandertreffen, so dass eigentlich jede*r Leser*in die Möglichkeit hat, sich in einer der Figuren wieder zu finden.
Zitate
Ich habe selten so viele Post-Its in ein Buch geklebt. Es enthält zahlreiche Passagen, die einen Gedanken auf den Punkt bringen und mich zum Nachdenken:
Das ist einer der Vorteile des Saufens – bei Tisch hielt ich mich an die, die ausgiebig tranken, oder die, die ständig aufs Klo mussten: Beide Tätigkeiten befördern besser als jede andere die Vermischung der sozialen Schichten.
Virginie Despentes: Liebes Arschloch, S. 112
(…) ohne den Neid der Armen ist das Glück der Reichen nicht etwa unvollständig: Es ist dahin.
Virginie Despentes: Liebes Arschloch, S. 113
(…) ich erkenne die Schönheit der Dinge erst im Rückspiegel, wenn die Nostalgie sie in ein neues Licht rückt.
Virginie Despentes: Liebes Arschloch, S. 126
In einem System der Gewaltherrschaft gibt es keinen Spaß, solange niemand weint. Jede Lust muss mit Zerstörung einhergehen, sonst ist sie nicht männlich. Wenn du es genießt, dass ich dich vögele, und dich am nächsten Tag nicht wie der letzte Dreck fühlst, habe ich dich nicht wie ein Mann gevögelt. Oder aber du gehörst mir, ich heirate dich, schwängere dich und sperre dich in deine Rolle. Zerstörerisch muss es sein. Das gilt für die Heterosexualität – gilt für alles. Wenn es nach dem Genuss keine Trümmer gibt, hat die Männlichkeit gefehlt.
Virginie Despentes: Liebes Arschloch, S. 194
Was kann man für Freunde tun, für die man das Schlimmste befürchtet? Nichts. (…) Man kann nur denken, hoffentlich geht es vorbei. Und da sein, hinterher. Und beten, dass von dem einstigen Freund dann noch was übrig ist.
Virginie Despentes: Liebes Arschloch, S. 223
Fazit
„Liebes Arschloch“ ist ein schlaues Buch, vielleicht sogar ein kleiner Spiegel der Gesellschaft. Der Roman versucht – nicht immer gelungen – sämtliche aktuell gesellschaftlich geführten Debatten aufzugreifen und streift neben toxischer Männlichkeit, Altersdiskriminierung, Drogen- und Alkoholmissbrauch auch Familie und Elternschaft, die Pandemie, Einsamkeit, Machtstrukturen im Kulturbetrieb, Cyber-Mobbing und psychische Gesundheit in Zeiten von Social Media.
Primär behandelt es die fast schon therapeutische Begegnung zweier Suchtkranker, die es gemeinsam schaffen, clean zu bleiben bzw. werden.
In jedem Fall ein empfehlenswerter Roman für einen Rotwein-Leseclub am Abend.
Bibliografie
Titel: Liebes Arschloch
Autorin: Virginie Despentes
Übersetzung: Ina Kronenberger, Tatjana Michaelis
Verlag & Copyright: Kiepenheuer&Witsch
Seitenzahl: 336
Erscheinungstermin: 09. Februar 2023
Preis: 24 € (gebunden)