Die Menschheit hat den Verstand verloren von Astrid Lindgren

Mein Social Media Name verrät es euch: ich bin ein großer Astrid Lindgren Fan. Wer wollte als Kind nicht so stark und mutig sein wie Pippi Langstrumpf, durch die Wälder streunen wie Ronja Räubertochter oder in Bullerbü Kirschen am Straßenrand verkaufen? Da ich mich außerdem seit einiger Zeit für Geschichte interessiere, war es nur logisch, ihre veröffentlichten Tagebücher zu lesen.

Klappentext

Astrid Lindgren hat unsere Kindheit geprägt. Mit Pippi Langstrumpf und Wir Kinder aus Bullerbü hat sie unseren Blick auf die Welt verändert. Ihre Geschichten handeln von Mut, Hoffnung, Liebe und Widerstand. Lange bevor diese Bücher entstanden, schrieb sie ihre Gedanken über das dunkelste Kapitel des 20. Jahrhunderts nieder: den Zweiten Weltkrieg. In ihren Tagebüchern schildert sie, wie Europa von Faschismus, Rassismus und Gewalt vergiftet wird. Nachdenklich und betroffen, aber auch mit dem so unverwechselbaren Tonfall stellt Astrid Lindgren in ihren Tagebüchern wichtige Fragen, die heute wieder von erschreckender Aktualität sind: Was ist gut und was ist böse? Was tun, wenn Fremdenfeindlichkeit und Rassismus das Denken und Handeln der Menschen bestimmen? Wie kann jeder Einzelne von uns Stellung beziehen? Neben dem Kriegsgeschehen erzählt sie von ihrem Familienleben und den ersten Schreibversuchen: 1944 schenkt sie ihrer Tochter das Manuskript von Pippi Langstrumpf zum Geburtstag. Das persönliche Zeitdokument einer sehr klugen Frau, die schon immer den Blick für das große Ganze hatte.

Meine Meinung

Man sollte also weniger eine Biografie als eine persönliche Kriegsberichterstattung erwarten (es ist übrigens erstaunlich, wie gut die Autorin über das aktuelle Weltgeschehen informiert war bzw. sich informieren konnte).  In starkem Kontrast zu den Gräueltaten der Nazis erzählt sie vom friedvollen Familienalltag im neutralen Schweden und dieser nahtlose Übergang vom Morden zum üppigen Ostermahl, lässt mich immer wieder stolpern.

Den Deutschen ist eine neue Teufelei eingefallen, nämlich Raketen-Flugzeuge, die nach England hinüberfliegen und große Brände und Explosionen verursachen. Die Engländer sind zutiefst indigniert, weil die Flugzeuge, unbemannt wie sie sind, ja nicht nur auf militärische Ziele ausgerichtet werden können, sondern allgemein großen Schaden anrichten. (…) Außerdem haben Lasse und ich eine Fahrradtour Virserum – Skirö – Holsbybrunn – Fagerhult – Krakshult – Vimmersby gemacht. Beide Tage waren warm und schön (…). Blut fließt, Menschen werden zu Krüppeln, überall Elend und Verzweiflung.

Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren, S. 379

Das Vorwort von Antje Rávic Strubel bringt den Fokus der Tagebücher eigentlich sehr gut auf den Punkt: „Es ist der Blick derjenigen, die vom privilegierten Standpunkt der Verschonten aus, die Katastrophe verfolgt (…).“ Es hilft bei der Einordnung des Buches und gibt einen guten Überblick über das, was die Lesenden erwartet. Auch das Nachwort ihrer Tochter Karin Nyman hilft dabei, insbesondere in Bezug auf die schriftstellerische Tätigkeit ihrer Mutter. Denn hierzu steht in den Tagebüchern leider sehr wenig. Pippi war irgendwann einfach da und bleibt auch dann lediglich eine Randnotiz.

Sprachstil

Trotz der ernsten Thematik liest sich das Tagebuch flüssig und leicht (ihr schriftstellerisches Talent ist schon ganz deutlich spürbar!). Ab und zu musste ich sogar schmunzeln:

Es werden massenhaft Kleidung und Geld gesammelt und nach Finnland geschickt. Ich war gestern auf dem Dachboden und habe so viel zusammengekratzt, wie ich konnte, unter anderem Stures >Kutschermantel> und Schwiegermutters makabre Strickjacke. Als ob die Finnen nicht schon genug geprüft wären – auch ohne Mutters Strickjacke.

Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren, S. 29f.

Oft kommen mir ihre Schilderungen jedoch zu flapsig oder vielmehr naiv vor.

Aufbau

Astrid Lindgren hat nicht nur Tagebuch geführt, sie hat auch zahlreiche Zeitungsausschnitte gesammelt und Briefabschriften aus ihrer Zeit bei der Briefzensur des schwedischen Nachrichtendienstes erstellt. Die Struktur des Buches folgt der Originalausgabe, d.h. jedes Jahr beginnt zunächst mit allen entsprechenden Tagebucheinträgen, worauf Artikel und Briefe folgen und abschließend deren Übersetzung zu lesen ist. Dieser Aufbau macht das Lesen jedoch etwas anstrengend, da man nicht nur immer wieder hin- und her blättern muss, sondern auch oft nicht mehr weiß, was die Autorin zu den einzelnen Zeitungsausschnitten zu sagen hatte. Ich bin daher während der Lektüre dazu übergegangen, die Artikel sofort zu lesen, wenn sie im Tagebuch erwähnt werden und nicht erst, wenn ihr Block dran ist. Das erfordert zwar auch einige Blätterei, passt aber inhaltlich viel besser zusammen. Für mich hätten auch nicht sämtliche Ausschnitte im Original abgedruckt werden müssen (denn ich kann leider kein Schwedisch…), aber die Bilder in den Artikeln waren durchaus interessant.

Sehr hilfreich ist das Personenregister und ein Quellenverzeichnis gibt es auch.

Informativ

Mit diesem Buch habe ich wieder einmal sehr viel Neues über den Zweiten Weltkrieg gelernt. Insbesondere der (vollkommen realitätsfern wirkende) Blickwinkel aus dem neutralen Schweden ist faszinierend: Während um sie herum die Welt zusammenbricht, müssen sie weder kämpfen, um ihr Land und Leben bangen oder hungern. Es kommt mir vor, als standen sämtliche Länder außer Schweden mit irgendeinem anderen im Krieg und Bündnisse formierten sich immer wieder neu. Über den Winterkrieg habe ich schon mal was gelesen, aber dass bspw. Norwegen so stark betroffen war, wusste ich nicht. Oder dass Holland anscheinend Java kolonialisiert hatte (Achtung Haschimitenfürst: „Ich weiß noch nicht einmal, wo Java liegt“ – „Das ist eine große Insel vor Indonesien, Peter“).

Dass die Schwed*innen aber anscheinend lieber unter deutscher als unter russischer Herrschaft würden leben wollen, fand ich echt gruselig.

Am schlimmsten ist, dass man Deutschland bald kaum noch eine Niederlage zu wünschen wagt, denn jetzt haben die Russen wieder angefangen, sich zu bewegen.

Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren, S. 62

Hier schimmert dann auch wieder Lindgrens z.T. naive Sicht auf die aktuelle Weltlage durch (bspw. sagt sie, sie würde lieber für den Rest ihres Lebens den Hitlergruß machen als die Russen im Land zu haben).

Wie erschreckend häufig bei historischen Werken, wirken sie derzeit unheimlich aktuell:

Russland befinde sich nicht im Krieg mit Finnland, behauptet das Herzchen, sie wollten doch nur das finnische Volk befreien, das bloß zu störrisch ist, sich retten zu lassen.

Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren, S. 30

Fazit

Es ist schon seltsam, so über das eigene Volk und Heimatland zu lesen: Als ein riesiges kaltherziges und arrogantes Monster, das größenwahnsinnig über den Rest von Europa herfällt. Aber angesichts der Tatsache, dass es bald keine lebenden Zeitzeug*innen mehr geben wird, finde ich Bücher wie diese ungeheuer wichtig.

Und dafür, dass es über 500 Seiten hat, eher in die Kategorie Sachbuch mit ernster Thematik fällt und noch dazu eine etwas benutzerunfreundliche Struktur aufweist, ließ es sich wirklich gut lesen. Hier muss man also wirklich Tagebücher und deren Aufbereitung trennen. Mit einem besseren Aufbau wäre es sogar ein Jahreshighlight geworden… Empfehlen möchte ich es aber in jedem Fall!

Bibliografie

Titel: Die Menschheit hat den Verstand verloren
Autorin: Astrid Lindgren
Übersetzung: Angelika Kutsch, Gabriele Haefs
Verlag und Coopyright: Ullstein
Seitenanzahl: 592
Erscheinungstermin: 18. November 2016
Preis: 18 € (Taschenbuch)

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