Meine dunkle Vanessa von Kate Elizabeth Russel

Ich hoffe, meine Rezension wird diesem besonderen Debut-Roman gerecht. Denn die Thematik ist weder angenehm noch einfach. Für leichte Gemüter ist die düstere Geschichte jedenfalls nichts. Auch mir ging sie so richtig unter die Haut (Schubber).

Triggerwarnung

… aufgrund sehr explizit beschriebener Szenen sexuellen Missbrauchs, der als Liebesgeschichte getarnt wird.

Handlung

Die 15jährige Internatsschülerin Vanessa beginnt eine Beziehung mit ihrem Highschool-Lehrer, der fast dreimal so alt ist wie sie. Sechs Jahre später wiederholt sich die Geschichte beinahe mit einem Professor am College, doch diesmal zieht der Ältere klare Grenzen. In der letzten Zeitebene, der Gegenwart (weitere 11 Jahre später), muss sich ihr ehemaliger Lehrer wegen sexuellen Missbrauchs vor Gericht verantworten und Vanessa wird mit der Frage konfrontiert, ob es womöglich doch keine Liebe gewesen ist…

Von außen betrachtet, scheint Vanessa das perfekte Opfer zu sein: Sie ist Einzelgängerin und einsam, ihre einzige Freundin hat sich kurz zuvor von ihr abgewendet. Und dann kommt dieser Lehrer und gibt ihr genau das, wonach sie sich am meisten sehnt: Aufmerksamkeit, Bewunderung – kurzum: er betet sie an. Es ist erschreckend, wie er sie damit ganz strategisch darauf konditioniert, nicht mehr ohne ihn auszukommen. So schafft sie es auch Jahre später nicht, sich aus der toxischen Beziehung lösen. Gleichzeitig verlangt er von ihr vor jeder Handlung Absolution und nutzt dies als Rechtfertigung gegen den Missbrauchsvorwurf. Er kündigt sogar ganz offen an, was mit ihr passieren wird, wenn sie sich mit ihm einlässt:

Ich werde dich ruinieren.

Kate Elizabeth Russel: Meine dunkle Vanessa, S. 102

Und genau das tut er auch: Es ist unfassbar, welche Verhaltensstörungen er bei ihr auslöst.

Reine Fiktion oder wahre Geschichte?

Ich lasse jetzt mal die Diskussion um die Frage außer Acht, ob die Geschichte auf wahren Begebenheiten beruht. Die Autorin verneint dies im Vorwort explizit. Allerdings erscheinen auch mir Roman, Handlung und Figuren zu authentisch, als dass kein Fünkchen Wahrheit darin enthalten wäre. Aber vielleicht hat sie auch einfach nur unfassbar gut recherchiert und die Thematik gekonnt in einen Roman umgesetzt.

Sprachstil

Kate Elizabeth Russel hat eine sehr atmosphärische Schreibweise. Sie zieht mich regelrecht in den dunklen Bann der Geschichte, die wie ein Autounfall auf mich wirkt: erschreckend, verstörend, widerlich – und dennoch konnte ich das Buch nicht aus der Hand legen.

Charaktere

Der Roman kommt mit einer sehr übersichtlichen Anzahl an Figuren aus. Neben der Schülerin Vanessa Wye, ihrem Lehrer Jacob Strane sowie ihrem späteren College-Professor Henry Plough gibt es eigentlich nur unbedeutende Nebencharaktere, die ihre Position kurzzeitig entsprechend der Handlung einnehmen. Selbst ihre Eltern bleiben irgendwie unscheinbar, wenngleich deutlich wird, in welcher Hilflosigkeit sie sich befinden.

Besonders interessant fand ich die gewählte Perspektive. Da wir Vanessa im Ich-Stil über alle drei Zeitebenen hinweg begleiten, erhalten wir tiefe Einblicke in ihre Gedanken und Emotionen, was für den Handlungsstrang an der Highschool die Sichtweise einer 15jährigen bedeutet. Gleichzeitig erfahren wir nie, wie die anderen Personen wirklich sind; was sie denken oder fühlen. Wir erfahren nur, wie sie von Vanessa wahrgenommen werden. Das macht es auch so schwer, die Opferfrage eindeutig zu beantworten. Denn irgendwie schafft es die Autorin, Strane zunächst so darzustellen, dass man sich nicht sicher ist, ob er kaltblütiger Täter oder einfach nur unglückselig verliebt ist.

Allerdings muss ich gestehen, dass ich es immer schwerer auszuhalten fand, wie sehr Vanessa bis zum Schluss darauf beharrt, dass das zwischen ihr und Strane Liebe war und kein Missbrauch.

Ich kann nicht die eine Sache verlieren, die mir jetzt schon so lange Halt gibt. Verstehen Sie? (…) Es muss eine Liebesgeschichte sein, darauf kann ich nicht verzichten.

Kate Elizabeth Russel: Meine dunkle Vanessa, S. 384

Meine Emotionen ihr gegenüber schwanken zwischen Mitgefühl und Verständnislosigkeit. Wie verrückt ist es, dass sie wütend auf die anderen Frauen wird, die Strane des sexuellen Missbrauchs beschuldigen, nicht aber auf den Täter selbst?

Jedes Mal, wenn in Vanessa ein Funke Wut über die Geschehnisse aufkeimt, möchte ich sie am liebsten schütteln, um sie ganz an die Oberfläche holen. Aber irgendetwas hält sie jedes Mal zurück. Und das ist unsagbar frustrierend zu lesen. Denn ich wollte unbedingt, dass Vanessa endlich erkennt und eingesteht, was ihr angetan wurde.

Doch egal wie wichtig es scheinen mag, derartige Vorfälle aufzudecken und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen: Anhand des unsympathischen Nebencharakters der Journalistin Janine Bailey schildert das Buch zudem sehr eindrücklich, wie aufdringlich und mit welchen Mitteln Medien die Opfer bedrängen können, ggf. nur, um eine Story zu bekommen.

Und im Hinblick auf eine weitere Nebenfigur – Taylor, die Frau, die sich in der Gegenwart an die Öffentlichkeit wendet – und wie diese sowie die Schule mit ihren Missbrauchsvorwürfen umgeht, wird deutlich, wie wichtig dieses Buch auch im Rahmen der #MeToo Debatte ist: Wann beginnt Belästigung? Was ist sexueller Missbrauch?

Nachwirkungen

Der Roman regt zum Nachdenken an und wirkt nach. Nicht nur Vanessa fragt sich, ob sie womöglich doch ein Opfer war. Auch als Leserin hinterfrage ich einiges und erfahre viel über die Funktionsweise missbräuchlicher Beziehungen. Dabei stört es mich wenig, dass die Autorin bei der Schilderung ihrer Geschichte anscheinend Lehrbuchartig vorgegangen ist. Durch das Buch lerne ich, dass das, was Strane betreibt „Grooming“ ist, also die gezielte Kontaktaufnahme eines Erwachsenen mit einer Minderjährigen mit der Absicht, sie zu missbrauchen (Vgl. Wikipedia).

Behandlung von Weltliteratur

Gut gefiel mir, wie die Autorin andere literarische Werke in die Geschichte mit eingewoben hat. Ich habe Nabokov’s Lolita nicht gelesen, würde aber gern wissen, wie ähnlich sich die Figuren wirklich sind.

Cover

Irgendwie kommt es mir unpassend vor, bei diesem Buch von seinem wunderschönen Cover zu schwärmen. Aber es zeigt einfach unglaublich kunstvoll die Düsternis der Geschichte und ich finde die Graustufen des Portraits in Kombination mit dem Schmetterling als einzig farbigen Objekt fängt perfekt den Zwiespalt zwischen Missbrauchs- und Liebesgeschichte ein.

Fazit

Ein sehr eindringlicher und unvergesslicher Roman über die toxische Beziehung zwischen einer Highschool-Schülerin und ihrem Lehrer. Dabei ist es kein typischer Missbrauchsbericht, sondern die Geschichte eines Teenagers, der dazu manipuliert wurde, sich auf eine Affäre mit einem dreimal so alten Mann einzulassen und damit den schlechtmöglichsten Grundstein für eine glückliche Zukunft zu legen. Denn sich der Wahrheit zu stellen, würde bedeuten, die eigene Vergangenheit aus einer ganz anderen Perspektive zu sehen. Und die ist alles andere als schön.

Ihr merkt, „Meine dunkle Vanessa“ ist keine leichte Kost, aber dennoch lesenswert und für mich definitiv ein Buch, das man gelesen haben sollte. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass dieser Roman in die Schule gehört, um dort angeleitet gelesen, bearbeitet und besprochen zu werden, da er sich ausgezeichnet dafür eignet, diese wichtige Thematik zu behandeln.

Kostenloses Rezensionsexemplar

Das Buch wurde mir als Rezensionsexemplar vom Bloggerportal zur Verfügung gestellt. Dies beeinflusst in keiner Weise meine Meinung.

Infos

Titel: Meine dunkle Vanessa

Autorin: Kate Elizabeth Russel

Übersetzung: Ulrike Thiesmeyer

Verlag und Copyright: C. Bertelsmann

Seitenzahl: 448 Seiten

Erscheinungsdatum: 17. August 2020

Preis: 20 € (gebunden)

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