Americanah von Chimamanda Ngozi Adichie

Ich bin Weiß, Deutsch und komme aus der Mittelschicht. Als Akademikerin halte ich mich für aufgeklärt, tolerant und neuen Blickwinkeln gegenüber aufgeschlossen. Doch dieses Buch schreibt mich an die Wand. Es fühlt sich an, als hätte ich mich noch nie mit Rassismus auseinandergesetzt. Daher bin ich der Autorin unendlich dankbar und hoffe sehr, dass möglichst viele Menschen dieses Buch lesen werden.

Klappentext

Chimamanda Adichie erzählt von der Liebe zwischen Ifemelu und Obinze, die im Nigeria der neunziger Jahre ihren Lauf nimmt. Dann trennen sich ihre Wege: Die selbstbewusste Ifemelu studiert in Princeton, Obinze strandet als illegaler Einwanderer in London. Nach Jahren stehen sie plötzlich vor einer Entscheidung, die ihr Leben auf den Kopf stellt. Adichie gelingt ein eindringlicher, moderner und hochpolitischer Roman über Identität und Rassismus in unserer globalen Welt.

Meine Meinung

Zeitlich umfasst der Roman ein Vierteljahrhundert, wobei Chimamanda Ngozi Adichie nicht konsistent chronologisch erzählt, sondern immer wieder in Jahr und Perspektive hin- und herspringt. Aber keine Angst, man kann der Handlung jederzeit folgen.

Die Grundgeschichte ist relativ simpel und zu Beginn liegt der Fokus eindeutig auf der großen Jugendliebe zwischen Ifemelu und Obinze (im späteren Verlauf spielt sie dann eher eine Nebenrolle). Vielleicht hat es deshalb ca. zweihundert Seiten gebraucht, bis mich die Handlung so richtig fesseln konnte.

Das Buch besticht insbesondere durch die grandios gezeichnete Charakterentwicklung beider Protagonist*innen, die wir dabei begleiten, wie ihre Erfahrungen ihre Persönlichkeiten formen und ihre Entscheidungen beeinflussen.

Ifemelu

lernen wir als intelligente und leidenschaftliche junge Frau kennen, die sich – zunehmend frustriert über die politische Entwicklung in ihrem Land – dazu entscheidet, ihr Studium in den USA fortzusetzen. Und jetzt wird es interessant, denn anders als in Nigeria, wo es ganz natürlich war, Schwarz zu sein, wird sie in Amerika zum ersten Mal mit ihrer Hautfarbe konfrontiert. Rassismus und Diskriminierung nehmen ihr jegliche Illusion und lassen sie zynisch werden. Sie beginnt, über ihre Erfahrungen zu schreiben und schafft es dadurch, in Princeton Fuß zu fassen.

Die Beiträge in ihrem Blog „Raceteenth oder Ein paar Beobachtungen über schwarze Amerikaner (früher als Neger bekannt) von einer nicht amerikanischen Schwarzen“, die in die Erzählstruktur eingebunden werden, machen für mich das Besondere an diesem Buch aus. Und obwohl ich das eher selten mache, habe ich mir unzählige Passagen markiert, weil es einfach so vieles gab, über das ich mir vorher noch nie Gedanken gemacht habe.

Bspw. zur Rassenhierarchie:

In Amerika existiert eine Leiter der rassischen Hierarchie. Weiß ist immer ganz oben, insbesondere weiße angelsächsische Protestanten, auch WASP genannt, und amerikanische Schwarze sind immer ganz unten, was sich dazwischen befindet, ist immer abhängig von Ort und Zeit.

Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah, S. 236

Oder was das für Auswirkungen auf Beziehungen haben kann:

In einer interkulturellen Beziehung muss man viel erklären. Meine Exfreunde und ich haben viel Zeit damit verbracht. Manchmal frage ich mich, ob wir uns überhaupt etwas zu sagen gehabt hätten, wenn wir aus demselben Land gewesen wären.

Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah, S. 575

Oder was Rasse überhaupt ist:

(..) bei Rasse geht es nicht um Biologie, sondern um Soziologie. Rasse ist kein Genotyp; Rasse ist ein Phänotyp. Rasse ist wichtig, weil es Rassismus gibt. Und Rassismus ist absurd, denn es geht ihm darum, wie du aussiehst. Und nicht um dein Blut. (…) In Amerika entscheidest nicht du, welche Rasse du bist. Es wird für dich entschieden.

Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah, S. 427

Die Blogeinträge helfen mir auch zu verstehen, warum Ifemelu nach 13 Jahren im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wieder nach Nigeria zurück will. Das konnte ich anfangs einfach nicht nachvollziehen – vielleicht auch, weil uns an ihren Sorgen und Ängsten bzgl. ihrer Rückkehr teilhaben lässt. In Amerika führte sie ein Leben mit allen Annehmlichkeiten. Warum dann in ein Entwicklungsland zurück kehren, zu einem schlechter bezahlten Job und einer Jugendliebe, die sie Jahrelang ignorierte und der – mittlerer Weile ein erfolgreicher Geschäftsmann – mit einer anderen schönen Frau und der gemeinsamen Tochter ein neues Leben begonnen hat?

Doch dann begreife ich, dass Ifemelu in ihre Heimat zurückkehrt, weil sie sich nicht länger an die amerikanische Gesellschaft anpassen will. Sie möchte sich wieder mit ihrer eigenen kulturellen Identität verbinden. Natürlich hat sie die Zeit in den USA sehr geprägt, aber statt ihrem Heimatland weiter den Rücken zu kehren, weil ihr die Lebensumstände nicht passen, möchte sie versuchen, es mit ihrer Stimme zu verändern.

Kurzer Exkurs: Wäre Michelle Obama mit einem Afro auch First Lady geworden?

Ehrlich gesagt, habe ich nicht gewusst, dass Haare so politisch sein können bzw. wie belastend die Bändigung ihrer Haare für schwarze Frauen sein muss, wenn ich lese, was sie alles über sich ergehen lassen, denn anscheinend gelten nur glatte Haare als professionell. So zieht sich das Thema Haare von den ersten Seiten an wie ein roter Faden durch das Buch.

Obinze

hingegen ist anfangs ein idealistischer junger Mann, der davon träumt, in den USA zu leben. Leider kann er wegen seiner Eltern das Land nicht gemeinsam mit Ifemelu verlassen. Und nach dem 11. September ist es für schwarze Afrikaner kaum möglich, nach Amerika auszuwandern. So muss er sich weiter mit der Korruption und dem wirtschaftlichen Niedergang seines Landes auseinandersetzen, was ihn letztendlich dazu bringt, sein Glück in Europa zu versuchen. Doch anders als in seinem Heimatland, wo er der Bildungselite angehörte, findet er sich in London als illegale Reinigungskraft gesellschaftlich auf der untersten Stufe wieder. Die harte Realität lässt seine Sanftmut brechen und kurz bevor er sich durch eine gekaufte Heirat eine Aufenthaltsgenehmigung sichern kann, wird er abgeschoben.

Das Besondere an diesem „Flüchtlingsthema“ ist, dass das Milieu, aus dem die beiden Protagonist*innen kommen, keineswegs ärmlich war. Weder Ifemelu noch Obinze litten Hunger, waren obdachlos oder ohne Zugang zu Bildung.

Ich habe Gott sei Dank nicht den leisesten Schimmer, wie es sich anfühlt, wirklich chancenlos zu sein, doch die Gedanken von Obinze geben mir zum ersten Mal eine Ahnung:

(…) warum Menschen wie er, die gut genährt und ohne Durst, aber eingemauert in Unzufriedenheit aufgewachsen waren, die von Geburt an dazu konditioniert waren, auf andere Orte zu blicken, und felsenfest davon überzeugt waren, dass das wahre Leben an diesen Orten stattfand, dass diese Menschen jetzt entschlossen waren, gefährliche Dinge zu tun, illegale Dinge, um zu entkommen. Keiner von ihnen war unterernährt oder ein Vergewaltigungsopfer oder stammte aus einem niedergebrannten Dorf, sie waren einfach nur ausgehungert nach Wahlmöglichkeiten und Sicherheit.

Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah, S. 349

Ein wichtiges Buch

Ich finde es ja immer etwas seltsam, wenn Leute von einem „wichtigen Buch“ sprechen. Aber „Americanah“ fällt wirklich in diese Kategorie. Es geht nicht einfach nur um Rasse, Rassismus oder Identität. Die Autorin gewährt mir Zugang zu einer Perspektive, die ich sonst niemals erfahren hätte. Dadurch lerne ich wirklich viel, auch was wir Weißen gegen Rassismus tun können:

Ich bin nicht sicher. Zuhören vielleicht. Hören, was gesagt wird. Und daran denken, dass es nicht um euch geht. Schwarze Amerikaner sagen nicht, dass ihr schuld seid. Sie erzählen euch nur, wie es ist. Wenn ihr es nicht versteht, stellt Fragen. Wenn es euch unangenehm ist, Fragen zu stellen, dann sagt, dass es euch unangenehm ist, Fragen zu stellen, und fragt trotzdem. Man merkt leicht, wenn eine Frage aus guten Gründen gestellt wird. Und dann hört wieder zu. Manchmal wollen die Leute einfach nur gehört werden.

Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah, S. 414

Autorin

Chimamanda Ngozi Adichie wurde 1977 in Nigeria geboren und lebt heute in Lagos und in den USA, daher vermute ich, dass die sehr authentisch erzählte Geschichte autobiografische Elemente enthält. Vielleicht traut sich die Autorin auch aus diesem Grund, gesellschaftliche Tabuthemen schnörkellos, unverblümt sowie humorvoll anzusprechen und so ein Buch zu schaffen, dass wirklich nachhallt.

Fazit

Americanah ist ein politscher Roman, der sich auf intelligente und unterhaltsame Weise – aber vor allem, ohne belehrend zu wirken – mit den Themen Identität, Rassismus, Liebe und kulturelle Unterschiede auseinandersetzt.

Ich kann dieses Buch nur allen wärmstens ans Herz legen – meinen Horizont hat es definitiv erweitert! Also: Seid der weiße Freund * die weiße Freundin, der* die kapiert – und hört zu.

Bibliografie

Titel: Americanah
Autorin: Chimamanda Ngozi Adichie
Übersetzung: Anette Grube
Verlag und Copyright: FISCHER
Seitenzahl: 608
Erscheinungstermin: 25.06.2015
Preis: 14 € (Taschenbuch)

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