Dschinns von Fatma Aydemir

Ich habe länger mit mir gerungen, ob ich diesen Roman wirklich lesen will, denn „Dschinns“ stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022 und das sind meistens nicht die Bücher, die mir gefallen. Als dann aber das Los im eat.read.sleep Lesekreis Göttingen darauf fiel, nahm ich es gleichzeitig zum Anlass, endlich Mitglied in der Büchergilde zu werden, weil sie den Roman in einer besonders hübschen Edition herausgeben.

Klappentext

Dreißig Jahre hat Hüseyin in Deutschland gearbeitet, nun erfüllt er sich endlich seinen Traum: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Nur um am Tag des Einzugs an einem Herzinfarkt zu sterben. Zur Beerdigung reist ihm seine Familie aus Deutschland nach. Fatma Aydemirs großer Gesellschaftsroman erzählt von sechs grundverschiedenen Menschen, die zufällig miteinander verwandt sind. Alle haben sie ihr eigenes Gepäck dabei: Geheimnisse, Wünsche, Wunden. Was sie jedoch vereint: das Gefühl, dass sie in Hüseyins Wohnung jemand beobachtet. Voller Wucht und Schönheit fragt „Dschinns“ nach dem Gebilde Familie, den Blick tief hineingerichtet in die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte und weit voraus.

Meine Meinung

Dieser Roman setzt sich aus den unterschiedlichen Biografien der Familienmitglieder zusammen, d.h. wir betrachten ihre gemeinsame Geschichte aus völlig verschiedenen Blickwinkeln, was ich sehr spannend fand. Die Handlung erstreckt sich nur über wenige Tage, wird aber durch Rückblenden ergänzt.

Den Vater Hüseyin lernen wir zuerst kennen. Er hat sich so danach gesehnt, wieder in sein Heimatland zurückzukehren, denn die deutsche Kultur ist ihm ein Leben lang fremd geblieben. Während er sich den neuen Lebensabschnitt mit seiner Familie in Istanbul ausmalt, ereilt ihn sein Tod. Das erste und letzte Kapitel ist etwas gewöhnungsbedürftig in der zweiten Person Singular geschrieben, passt aber zu der Idee, dass ein Dschinn mit ihm (und später seiner Frau) spricht. Bei den Kindern wechselt der Sprachstil in die dritte Person Singular.

Ab dem zweiten Kapitel erfahren wir, wie die einzelnen Familienmitglieder von Hüseyins Tod erfahren, wie sie versuchen, rechtzeitig zur Beerdigung in Istanbul zu sein und wie sie mit dem Ereignis umgehen.

Der jüngste Sohn Ümit macht den Anfang. Er hat sich in einen Jungen aus seinem Fußballteam verliebt und scheinbar mehr mit dessen Reaktion darauf zu kämpfen als mit dem Verlust des Vaters. Wie seine Eltern mit seiner sexuellen Orientierung umgehen würden, erfahren wir nicht, denn er hat sich (noch) nicht geoutet. Aber sein deutscher Trainer bekommt es mit und schickt ihn zu einem Psychiater, weil es in den 90ern auch in Deutschland nicht sein darf, dass ein Fußballspieler schwul ist. Seine Geschichte kam mir etwas zu kurz; ich hätte gern mehr über ihn gelesen.

Anschließend wechselt die Handlung zu Sevda, der ältesten Tochter. Ihre Geschichte hat mich richtig wütend gemacht, denn im Prinzip wurde sie von ihren Eltern ihrer Zukunft beraubt. Sie darf ihnen erst mit 15 nach Deutschland folgen und erhält damit nicht die gleichen Chancen wie ihre jüngeren Geschwister. Dann muss sie sogar ihren Sprachkurs abbrechen, weil sie verheiratet wird – natürlich mit einem Türken – und dafür braucht sie kein Deutsch. Selbst als sie ihn verlassen will, erhält sie keine Unterstützung. Stattdessen nur Äußerungen wie: „Er schlägt dich nicht, also ist er ein guter Mann…“ Umso beeindruckter bin ich von ihrem Charakter, denn trotz aller Widrigkeiten erkämpft sie sich nach und nach ihre Eigenständigkeit.

Als drittes kommt Peri zu Wort. Anders als Sevda konnte sie zur Schule gehen; ja sogar studieren. Doch im Gegensatz zu ihrer Schwester, scheint ihre Freiheit sie zu überfordern. Sie ist aber auch die Einzige, die bereits jemanden verloren hat, der ihr nahestand. Geschickt webt die Autorin in diesem Kapitel eine fünfte Person – den Kurden Ciwan ­– mit ein. Durch ihn beginnt Peri Fragen zu stellen: Warum sprechen ihre Eltern zu Hause nie kurdisch? Warum leugnen sie ihre Herkunft?

Danach begleiten wir Hakan, den ältesten Sohn, auf seinem Roadtrip zur Beerdigung (Er liebt schnelle Autos). Er hat als Kind und Jugendlicher ziemlich viel Mist gebaut. Als er seine kurdische Herkunft realisiert, bestätigt sie ihn nur in seinem Gefühl, nirgends dazu zu gehören: Als Türke nicht zu Deutschland und als Kurde nicht zur Türkei.

In jeder dieser Geschichten, wird die Beziehung zu ihren Eltern thematisiert, dabei hat jedes Kind einen anderen Weg gewählt, um sich von ihnen zu lösen: von Politisierung über finanzielle Unabhängigkeit bis hin zum Widerstand.

Was ich – und wohl auch die Kinder – nicht verstanden habe, ist, warum Hüseyin und Emine ihnen ihre kurdische Herkunft verschweigen.

Als letztes blickt Ehefrau und Mutter Emine auf ihr gemeinsames Leben zurück (sie wird wie Hüseyin direkt vom Dschinn angesprochen). Dabei setzt sie sich wohl zum ersten Mal mit ihrer gesellschaftlichen Rolle als Frau auseinander, hinterfragt ihre Beziehung zu ihrem Mann; ihren Kindern und lüftet ein dunkles Geheimnis.

Insgesamt fand ich die verschiedenen Persönlichkeiten in ihrer Unterschiedlichkeit sehr gut dargestellt, sie wirkten thematisch stimmig und ich bin den einzelnen Biografien gern gefolgt.

Und obwohl die Figuren sehr stereotyp gezeichnet sind – von der inakzeptablen Homosexualität des jüngsten Sohnes; über die älteste Tochter, die verheiratet wird und nicht mehr das Haus verlassen darf und den Kleinkriminellen, der aufgrund seines Aussehens an jeder Grenze kontrolliert wird, bis hin zur Mutter, die kein Deutsch spricht – bindet Fatma Aydemir dieses Klischeehafte sehr überzeugend mit ein, sodass die Charaktere trotzdem glaubhaft und lebensecht wirken.

Ein weiteres Thema des Romans ist die Ausländer*innenfeindlichkeit. Darum kommt eine Migrationsgeschichte Anfang der 90er vermutlich nicht herum. Und so machen auch die Figuren von Fatma Aydemir die verschiedensten Rassismuserfahrungen, die ich mir nicht mal Ansatzweise vorstellen kann und mir trotzdem eine Gänsehaut machen.

Etwas zu kurz kamen mir die Titelgebenden Dschinns. Ich habe sie als unsichtbare Geister interpretiert, die einen verfolgen und in Form von Erinnerungen, Traumata, Gefühlen oder Zweifeln heimsuchen können. Vielleicht verkörpern sie auch all das Unausgesprochene, das man auch vor sich selbst verbergen möchte.

Fazit

Fatma Aydemir schafft mit dem Zusammentreffen in Istanbul ein Setting emotionaler Ausnahmesituation. In ihrer Trauer prallen jahrelang unterdrückte Gefühle aufeinander: Scham, Wut, Unverständnis, Rebellion, Bedauern. Ein facettenreicher Gesellschaftsroman über eine kurdische Gastarbeiter-Familie, in dem Themen wie Diskriminierung, Korruption, Identität, Homophobie, Emanzipation und patriarchalische Familienstrukturen behandelt werden.

Bibliografie

Titel: Dschinns
Autorin: Fatma Aydemir
Verlag & Copyright: Hanser (meine Edition ist von der Büchergilde)
Seitenzahl: 368
Erscheinungsdatum: 14. Februar 2022
Preis: 24 € (gebunden)

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